Diskussion
ORF/Johannes Puch
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Kultur

Tddl: Zwischen Tinder-Dates und Hundeangriff

Lukas Maisel und Fritz Krenn haben am Freitag den zweiten Lesenachmittag bei den 45. TddL in Klagenfurt – mit Texten über Tinder-Dates und einen Hundeangriff – bestritten. Davor lasen Leander Steinkopf, Anna Prizkau und die Kärntnerin Verena Gotthardt. Es gab keinen klaren Favoriten.

Um die Ausnahmesituationen im Dasein eines Schriftstellers, sowie die seelische Verwandtheit mit literarischen Vorbildern ging es in „Mr Dog“. Der steirische Schriftsteller Fritz Krenn, der von Juror Klaus Kastberger nominiert wurde, entnahm den Text einem Erzählband, der Berichte über skurrile Erfahrungen bei Lesungen versammelt – mehr dazu in TEXT Fritz Krenn (A).

Fritz Krenn
WDW-Film
Fritz Krenn

Juryvorsitzende Insa Wilke freute sich über den „sorglosesten Text, den wir bisher in dieser Runde gehört haben“ und lobte eine „virtuose Literaturbetriebsetüde“, der einladende Kastberger hob die literarischen Bezüge auf Bernhard, Handke und Reich-Ranicki hervor und arbeitete die Doppelbödigkeit zwischen historischer Realität und Fiktion heraus. Auch Wiederstein fand lobende Worte: „Hier wird das Salon-Milieu mit großer Liebe der Lächerlichkeit preisgegeben.“

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Philipp Tingler äußerte unterdessen sein „Problem mit der narrativen Ökonomie des Textes“, den er „überladen und konfus“ nannte, während Vea Kaiser vor allem zahlreiche inhaltlichen Unstimmigkeiten kritisierte. Schwens-Harrant würdigte schließlich die „Lebendigkeit der Lesung“, Delius die „lakonische Komik“ des Textes.

Christian Ankowitsch
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Lukas Maisel: Anfang und Ende

Zuvor startete der Schweizer Autor Lukas Maisel, der sich derzeit als Stipendiat in Krems aufhält, in die Nachmittagssession. Er wurde von Philipp Tingler zu den 45. TddL eingeladen, um seinen Text „Anfang und Ende“ zu präsentieren.

Lukas Maisel
WDW-Film
Lukas Maisel

Dieser folgt dem Gespräch eines jungen Paares, Sara und einem Mann ohne Namen, die sich auf einer Dating-App kennengelernt haben, dies ihren Eltern aber nicht erzählen wollen. Sie sprechen auf dem Weg zu Saras Eltern darüber, welche ausgedachte Geschichte sie ihnen auftischen wollen. Er nennt Sara nicht seine Freundin, was sie stört. Sie bemerkt, dass er die Dating-App wieder heruntergeladen hatte und geht allein zu ihren Eltern. Er trifft sich mit der ersten Frau, die einem Date zustimmt. Eine halbe Stunde später trifft er Nina, wird sie wieder los und verabredet sich gleich darauf mit einer anderen, die aber nicht auftaucht. Dann geht er zurück zu Saras Haus und fragt sie, ob sie seine Freundin sein wollte. Sie wirft ihm seine Sachen aus dem Fenster in den Schnee – mehr dazu in TEXT Lukas Maisel (CH).

Lesung Lukas Maisel
ORF
Lesung Lukas Maisel

Erinnerungen an die Kindheit

Die Kärntner Autorin und Fotografin Verena Gotthardt, die in Wien studiert, war um 12.00 Uhr an der Reihe. „Die jüngste Zeit“ ist ein melancholischer Text, der in verschiedenen Bildern Erinnerungen im Jahresreigen beschreibt – mehr dazu in TEXT Verena Gotthardt (A).

Verena Gotthardt
Sima Prodinger
Verena Gotthardt

Das Stilmerkmal der Erinnerungen an eine Kindheit am Land sind sehr kurze Sätze, Brüche und Abbrüche. „In der Baumkrone noch immer zwei kleine Füße baumelnd. Viele Jahre später. Fotografien aus einer Kindheit, wo die Falten noch nicht so tief oder gar nicht da. Fragt man sich, wer man da wohl war. Und die Großeltern und die Tanten und die Onkel in bestätigtem Ton.“

Lesung Verena Gotthardt
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„Wenig innovativ, aber mir gefällt das“, meinte Michael Wiederstein zu diesem „kameralistischen Text“, der von Fotos ausgehende „Stillleben einer oder mehrerer Idyllen“ beschreibe.

Insa Wilke ortete in der Länge des Textes ein Problem, das ihm angesichts der Stilistik eine gewisse Schwere verleihe. „Endlich kein lineares, sondern ein assoziatives Erzählen, eine poetische Beschäftigung mit Erinnerung“, lobte Delius. Einen „radikalen Text, der sein Formprinzip bis zur Qual des Lesers durchhält“, ortete Kastberger, „die Form ist super, sie ist mir aber noch nicht genug gefüllt“ – mit „ein, zwei Hilfszeitwörtern“ wäre er aber noch besser gewesen. Zu viele gleiche, herkömmliche Adjektive fand jedoch Vea Kaiser. „Hier wird Demut zelebriert“, so Wilke.

„Großen Respekt vor dem Gestaltungswillen“ bekundete Tingler. „Eine gewisse Schwerfälligkeit“ irritierte Schwens-Harrant an dem Text, zu dem der Jury Filme von Michael Haneke bis Edgar Reitz einfielen. „Ich freue mich aber immer, wenn man was probiert“, lobte die Wiener Jurorin – Jurydiskussion Verena Gotthardt.

Christian Ankowitsch
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Steinkopf: Ein Haus am See

Am Freitag macht der von Vea Kaiser eingeladene deutsche Autor Leander Steinkopf um 10.00 Uhr den Auftakt mit seinem Text „Ein Fest am See“ – mehr dazu in TEXT Leander Steinkopf (D).

Er handelt von eine, Mann, der Ich-Erzähler, der zur Hochzeit der Frau eingeladen ist, die er liebt und mit der er eine Beziehung hatte. Sie ist Ausländerin geht aus den Reden der Bräutigameltern hervor. Woher, bleibt ungesagt. Sie ist ein Freigeist, wollte einst die Welt verändern. Ihr Mann ein deutscher Angestellter auf Schienen bis zur Rente. Am Buffet gibt es Veganes, die Gäste picknicken in der Wiese. Eine Zeremonie ohne Zeremoniell. Der ehemalige Liebhaber nimmt für sich Abschied von ihr.

Philipp Tingler sagte, der Text setzte eine lange abhanden gekommene Tradition von Gesellschaftsprosa fort und schätze daran auch die satirischen Züge und dessen geistvolle Pointiertheit.

Auch Mara Delius lobte die „runde, geschliffene Geschichte einer Enttäuschung“. Der Anfang habe etwas Filmisches und der Text entwickle sich zu einer Suche nach einem postmodernen Liebesverständnis. Es gebe allerdings einige Mängel auf sprachlicher Ebene.

Brigitte Schwens-Harrant schätzte, dass im Text unterschiedliche Klischees aufgearbeitet werden und fand besonders am Schlusssatz Gefallen. Große Fragen würde der Text nicht aufwerfen. Sie würde ihn nicht ein zweites oder drittes Mal lesen müssen. Sie habe gelesen, verstanden und sich gut unterhalten.

Leander Steinkopf
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Leander Steinkopf

Jury-Vorsitzende Insa Wilke sagte, der Text sei nicht auf Höhe der Radikalität seiner Figur. An jenen Stellen, an denen er etwas ankündige, sei der Text überhaupt nicht radikal. Etwas mehr kontrolliertes Chaos wäre für sie wünschenswert. Die Motivebene sei zwar sehr ordentlich, aber angekündigte Aktionen würden dann nicht stattfinden. Das reiche ihr nicht.

Laut Vea Kaiser werde der Hauptdarsteller in seiner Disneyprinzen-Darstellung entlarvt. Die Dekonstruktion der Heldenromantik sei auch während der Lesung gut rausgekommen.

Lesung Leander Steinkopf
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Michael Wiederstein sagte, er gehörte dem Team Tingler-Kaiser an. Die Kritik des misogynen Hauptdarstellers am „grünbürgerlichen Lebensentwurf“ der bei der Hochzeit gelinge Leander Steinkopf gut. Der erste und der letzte Satz hätten auch schon ausgereicht.

Vea Kaiser
ORF/Johannes Puch
Vea Kaiser

Charmant empfand Klaus Kastberger Text und Autor. Der Text komme auf Augenhöhe daher und sei auch sprachlich gelungen. Er sei allerdings stark genug und könne ohne die darin enthaltenen Dramatisierungen auskommen. Philipp Tingler sagte – für das Protokoll – in Richtung Wiederstein: „Es gibt kein Team Tingler-Kaiser“. Der Text sei pointiert in der Kritik nach außen, greife aber stark auf Sujets zurück. Die Qualität von Texten lasse sich nicht damit beurteilen, dass man herzlich gelacht habe – mehr dazu in Jurydiskussion Leander Steinkopf.

Anna Prizkau als zweite am Start

Als zweite Autorin ging am Freitag die aus Moskau stammende und seit den 1990ern in Deutschland lebende Anna Prizkau an den Start. Sie präsentierte auf Einladung von Philipp Tingler ihren Text "Frauen im Sanatorium“ – mehr dazu in TEXT Anna Prizkau (D). Er beschreibt in Rückblicken das Schicksal einer Einwandererfamilie und ihr Scheitern in Deutschland. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an den hoffnungsvollen Beginn des neuen Lebens, das mit der Trennung der Eltern und der psychischen Erkrankung der Mutter endete. Bei einem Unfall wird die Erzählerin verletzt, kommt nach dem Krankenhaus in eine Anstalt und erzählt ihre Erinnerungen einem Flamingo im See des Kurparks.

Klaus Kastberger sagte, die Geschichte sei bei ihm „angekommen“, es sei ihm alles aber auf eine etwas zu „große Bühne“ gestellt worden. Je forcierter die Mittel waren, dachte er, die Figuren würden an das stilistische Bühnenensemble nicht passen.

„Unverschämt trickreich“ empfand hingegen Mara Delius den Text. Anna Prizkau sei eine gute Autorin, die eine Geschichte kunstvoll erzähle. Brigitte Schwens-Harrant würdigte das eingebaute Thema „Alles wird gut“. Die Lebendigkeit der Dialoge sei „nicht so gelungen“ und die Erzählung „zu adjektivlastig“.

„Vieles Gutes“ verortete Insa Wilke. Sie fand sich an einen Text von Christine Lavant erinnert. Vea Kaiser widersprach Wilke. Der Text sei wie eine russische Puppe, die viele Ebenen enthalte. Michael Wiederstein sagte, der Text entspreche jenen Themen, die in Klagenfurt ziehen. Er verortete allerdings eine fehlende intellektuelle Manövriermasse. Für Philipp Tingler verkörpert der Text ein Ideal von Literatur. Er lobte auch den Vortrag in „lakonischer Eleganz“ – mehr dazu in Jurydiskussion Anna Prizkau.

Anna Prizkau Lesung
ZDF
Anna Prizkau

Die weitere Lesereihenfolge

Am Samstag komplettieren die junge Berlinerin Dana Vowinckel (10.00 Uhr), der ebenfalls in Berlin lebende Deutsche Timon Karl Kaleyta (11.00 Uhr) und die in Teheran aufgewachsene und in Graz lebende Nava Ebrahimi (12.30 Uhr) das Feld der 14 Lesenden, das von der Musikwissenschafterin und Autorin Nadine Schneider aus Deutschland abgeschlossen wird. Sie wird ab 13.30 Uhr ihren Text präsentieren.

Der erste Lesetag brachte keinen eindeutigen Favoriten, nur Necati Öziri darf sich gewisse Hoffnungen machen – mehr dazu in Erster Tag mit Lust an Diskussionen.

Letzter Lesetag und Publikumsvoting

Am Samstag starten die letzten vier Autorinnen und Autoren in das Wettlesen. Den Anfang macht um 10.00 Uhr die deutsche Autorin Dana Vowinckel, gefolgt von ihrem Landsmann Timon Karl Kaleyta und der in Teheran geborenen, in Deutschland aufgewachsenen und seit 2012 in Graz lebenden Autorin Nava Ebrahimi. Den Abschluss macht schließlich die Deutsche Nadine Schneider, die ihren 2019 erschienenen Roman „Drei Kilometer“ im Jung und Jung Verlag veröffentlicht hat.

Alle Infos online zu finden

Wie gewohnt sind die Texte (ab der jeweils laufenden Lesung), Jurydiskussionen und die Rede der Literatur nachzulesen. Alle Videos laufen live auf 3sat, der Bachmannpreis-Homepage und der tvthek.ORF.at. Im Internet stehen die Videos auch on demand zur Verfügung. Fotos für Pressevertreter gibt es unter presse.ORF.at.

Gartenstudio
ORF/Iris Hofmeister
Das Gartenstudio

Preisverleihung am Sonntag

Am Sonntag werden von den sieben Juroren die Preise vergeben. Unter den fünf Männern und neun Frauen, unter denen neben dem Bachmann-Preis auch der Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro), der Kelag-Preis (10.000 Euro), der 3sat-Preis (7.500 Euro) sowie der BKS Bank-Publikumspreis (7.000 Euro plus Stadtschreiberstipendium) vergeben wird, befinden sich mit Nava Ebrahimi, Katharina Ferner, Fritz Krenn und Magda Woitzuck und Verena Gotthardt fünf Teilnehmer aus Österreich. Letztere stammt aus Kärnten. Sieben Autorinnen und Autoren kommen aus Deutschland, zwei aus der Schweiz. Im Vorjahr gewann Helga Schubert den Ingeborg-Bachmann-Preis.