Frühere Missbrauchsfälle in Kärntner Institutionen zu klären, um neuen Missbrauch zu verhindern und diese Zeit wissenschaftlich aufzuarbeiten, sind Ziele des Landes und der Universität. Wer in seinen Kindertagen Gewalt und Missbrauch erlebt, verschließt die Erinnerung oft jahrzehntelang in sich, bis zu einer Lebenskrise.
„Der hat dich als Nackerten eingeklemmt…“
Der 60 Jahre alte Klaus S., ehemals Patient von Franz Wurst, landete vor Jahren auf der Straße und war nahe am Suizid. „Ich kann nimmer, ich habe keinen Job, ich habe schulden und trinke drei Liter Wein am Tag. Trotzdem ruft die Tochter an und sagt ‚Papa, wenn Du das nicht für Dich tun willst, dann mache es bitte für mich‘.“
Klaus wagte den Neubeginn. Er erinnert sich genau an die Vorfälle, auch an den berüchtigten Kinderarzt Franz Wurst, gegen den er sich nicht helfen konnte. „Bei den so genannten Untersuchungen hat er dich als Nackerten her genommen und an den Genitalien berührt. Als er gemerkt hat, dass es mir unangenehm wurde, hat er mich eingeklemmt und nicht mehr los gelassen.“
Vorwürfe oft als „schmutzige Phantasien“ abgetan
Unterstützung gab es für die Heimkinder nicht. „Ich bin aus dem Heim ausgebrochen. Die Polizei hat mich zurück gebracht. Dann wurde ich über einen Stuhl gelegt und mit einem Riemen geschlagen. Das hat man sechs Wochen lang gespürt. Das war damals die Heimleiterin, zu der man eigentlich hätte gehen sollen, wenn man Probleme hat.“ Vorwürfe wurden lange Zeit als schmutzige Phantasien von verwahrlosten Kindern abgetan.
124 Opfer bisher entschädigt
In den letzten Jahren entschädigte das Land Kärnten 124 Betroffene. Bei einem Symposium auf der Universität entschuldigten sich am Freitag Vertreter der Uni und des Landes öffentlich. Nun widmen sie sich auch mit wissenschaftlichen Arbeiten diesem Thema, sagte Ulrike Loch, Leiterin des Forschungsprojektes. „Franz Wurst und die Heilpädagogik hat die Arbeit mit Kindern so verstanden, dass die eigentliche heilpädagogische Arbeit erst dann beginnt, wenn die Kinder von den Eltern isoliert sind. Deshalb gab es auch das Wegschließen und das Vereinsamen von Kindern.“
Der Rektor der Alpen Adria Universität, Oliver Vitouch sagte, dass es gewisse Sicherheitsvorkehrungen brauche und zwar „überall, wo Erwachsene – und in der Regel sind es erwachsene Männer – mit Kindern systematisch zusammen kommen“.
„Es hat sich schon gezeigt, dass das mehr war, als Einzelschicksale“, sagte die Kinder- und Jugendanwältin Astrid Liebhauser. „Es waren mehr als einzelne Menschen, die Verbrechen begangen haben. Und es hat ja die Studie sehr deutlich gezeigt, um welche Netzwerke der Macht es letztlich gegangen ist.“
78 frühere Fachkräfte befragt
Für das wissenschaftliche Projekt wurden bisher 78 frühere Fachkräfte und Therapeuten befragt. Sie konnten die ehemaligen Heimkinder unterstützen.
18 Personen gaben keine Interviews. Laut Aussagen von wissenschaftlichen Mitarbeitern beim Symposion, muss davon ausgegangen werden, dass diese Personen über den Missbrauch damals Bescheid wussten.
Franz Wurst wurde im Jahr 2002 in 16 Fällen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen und wegen der Anstiftung zum Mord an seiner Frau verurteilt. Das Urteil lautete auf 17 Jahre Haft. Bereits nach vier Jahren kam Wurst aus gesundheitlichen Gründen frei. Er starb ein Jahr später im 89. Lebensjahr in einem Wiener Pflegeheim.
Seit Herbst meldeten sich mehr als 100 neue Opfer
Allein seit Herbst meldeten sich erneut mehr als 100 Betroffene beim Land. Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) zeigte sich erschüttert. „Sie gestatten, dass mein erster Gedanke in Richtung der Opfer geht, damit so etwas nie wieder, nie wieder, auch nur ansatzweise passieren darf.“
Das Land Kärnten und die Universität wollen alle Fälle aufarbeiten und dokumentieren, um Bewusstsein zu schaffen und damit künftigen Missbrauch zu vermeiden, damit niemand mehr sagen kann, es sei alles nicht so schlimm".