Viele kennen den Tagliamento zumindest vom Sehen her, denn unweigerlich kreuzt er den Weg all derer, die einen Ausflug durch Friaul Julisch Venetien machen.

Facettenreiches Farbspiel
Ausgehend vom Passo della Mauria fließt er bis zum Meer und verzaubert mit seinem facettenreichen Farbspiel. An der breitesten Stelle erstreckt sich sein Schotterbett über zweieinhalb Kilometer. Die engste Stelle, „la stretta“, liegt zwischen Ragogna und der Brücke von Pinzano.
Servus Srecno Ciao am 2. September 2023
Bernsteinhändler kamen dort einst auf dem Weg in Richtung Norden vorbei. Bis in die 1940er Jahre gab es sogar eine Fährverbindung. Heute befindet sich an ihrer Stelle ein beliebtes Naherholungsgebiet, wo zum Beispiel bei „Al Vecjo Traghet“ eingekehrt werden kann.

Bald UNESCO-Weltkulturerbe dank Bürgerinitiative?
Eine unparteiliche Bürgerinitiative mit Mitgliedern aus den umliegenden Gemeinden will den Tagliamento von der UNESCO als Weltkulturerbe schützen lassen und hat eine Unterschriftenaktion gestartet, erzählt Cristian Fior vom Komitee „ProTagliamento UNESCO APS“: „Unser Ziel ist es, dadurch die Gegend hier insgesamt aufzuwerten – Landschaft, Kultur und Geschichte, also alle Aspekte, die der Tagliamento vereint.“
Vorzeigebeispiel in Sachen Naturbelassenheit
Staudämme und andere Eingriffe in das natürliche Gleichgewicht durch den Menschen sollen weiterhin die Ausnahme bleiben. Wegen dieser Ausgangslage gilt der Tagliamento weltweit auch als Vorzeigebeispiel, sagt Chiara Scaini, Forscherin am Institut für Meeres- und Seenforschung OGS: „Der Tagliamento ist einer der meist erforschten Flüsse, weil seine natürlichen Gegebenheiten großteils erhalten sind. So etwas sieht man sonst nicht mehr. Die meisten Flüsse in Europa stehen unter dem Einfluss des Menschen. Von Forscherseite her ist ein natürlicher Fluss wie dieser sehr wichtig und viele kommen hierher, um herauszufinden, wie auch mit anderen Flüsse umgegangen werden müsste.“

Aulandschaft mit besonderer Artenvielfalt
Oft wird der Tagliamento auch als Rückgrat Friauls bezeichnet: Über die Jahrtausende schuf er in der Ebene Friauls einen weitläufigen Korridor mit einer intakten Aulandschaft. Eingerahmt von Schotterbänken und immer wieder durchbrochen von kleinen Inseln, fließt er durch alte Kulturlandschaften.

Die Aulandschaft des Tagliamentos, die sich auf einer Fläche von 150 Quadratkilometern erstreckt, hat für den Kärntner Autor Werner Freudenberger einen besonderen Reiz: „70 Quadratkilometer davon sind mit Schotter bedeckt. Die Artenvielfalt ist hier so hoch, dass man das mit Fug und Recht mit jener eines Korallenriffs oder des tropischen Regenwaldes vergleichen kann. Auch die Serengeti-Wüste wird oft als Vergleich herangezogen.“
Laut Freudenberger leben rund 1.500 verschiedene Käferarten, Fische, Kleinstlebewesen und Vögel entlang des Flusses: „Den Pflanzen und Tieren ist gemein, dass sie sich hier gegenüber den vielen Überschwemmungen behaupten mussten. Sie haben eine enorme Evolution hinter sich.“

Werner Freudenberger gibt Ausflugstipps in Buchform
An der Mündung in die Adria formt der Tagliamento die Küste und deren Lagunen und liefert den feinen Sand für die beliebten Badestrände.
Für Werner Freudenberger ist der Tagliamento ein Fluss zum Verweilen und Genießen – so, wie er es selbst immer wieder gerne macht. Er stellte ein Buch voller Tipps für Wander-, Rad- und Kulinarik-Begeisterte zusammen, das unlängst in einer überarbeiteten Neuauflage im Styria-Verlag erschienen ist.

„Schotterdreieck“ als Paradies für Steinsammler
Im sogenannten „Schotterdreieck“, wo die Fella in den Tagliamento fließt, befindet sich einer der Lieblingsplätze des Autors: „Ich war schon zig Mal hier. Ein Faszinosum dieses Flusses ist, dass er jedes Mal anders aussieht. Er verändert sein Flussbett dauernd.“
Manchmal treffe er hier auch auf Leute, die nach besonderen Steinen suchen, so Freudenberger: „Es gibt hier zwar keine Edelsteine und auch kein Gold, aber viele schöne Steine – zum Beispiel mit tektonischen Rissen, ausgefüllt mit Kalk oder anderen Ablagerungen. Das ergibt dann geometrische Linien. Diese Steine eignen sich super als Briefbeschwerer.“

Sendungshinweis: „Servus, Srecno, Ciao“, 2.9.23
„Fluss mit allen Sinnen erleben“
Egal ob Ampezzo, Venzone, Gemona, San Daniele oder Lignano – wer entlang des Tagliamentos scheinbar bekannte Orte neu entdecken will, findet in seinem Buch zahlreiche Anregungen.
„Ich habe bemerkt, dass sich solche Flusslandschaften immer größerer Beliebtheit erfreuen, weil wir hier die Umgebung mit allen Sinnen wahrnehmen können. Wir riechen das Wasser, wir spüren es auf der Haut, die Farben sind kolossal und dann auch das Geräusch – mal stärker und mal weniger stark. Am Tagliamento hört man zudem hin und wieder auch das Poltern und Rollen der Steine im Untergrund, die er mit sich schleppt“, so der Autor.

Er selbst schätzt auch Ausflüge samt Übernachtung am Ufer des Flusses: „Ich kann garantieren: es herrscht hier absolute Stille – man hört kein Auto, nur die Frösche quaken.“

Behutsame Renaturierung im Fokus
Auch die Menschen können laut Freudenberger in Hinblick auf Fluss-Renaturierungen einiges von der Praxis entlang des Tagliamentos lernen: „Der Fluss ist nicht nur so besonders, weil er nicht eingegrenzt oder aufgestaut ist, sondern auch, weil er Totholz mitführen darf, das nicht weggeschleppt wird. Dadurch entstehen wieder neue Biotope. Auch mit den Nebenflüssen geht man relativ behutsam um, was den Schotter-Nachschub betrifft. Wenn er kein Geschiebe mehr aus den Alpen mitbringt, beginnt er sich zu vertiefen. Es gibt hier ja rund 600 Inseln – dann wären diese gefährdet.“
Der Tagliamento – nicht nur ein Anziehungspunkt für Treibgut- und Steinesammler, sondern auch für Kultur- und Naturinteressierte und all jene, die auch die kulinarischen Besonderheiten in unserer Nachbarregion näher kennenlernen möchten.