Es ist eine ganz eigene Art und Weise, wie Menschen mit Autismusspektrum ihre Umgebung wahrnehmen. Umweltreize – wie Geräusche, Gerüche oder der Kontakt zu Mitmenschen – werden von ihnen zum Teil intensiver wahrgenommen. Die Reizüberflutung prägt das Sozialverhalten der Betroffenen.
Weltweit sind laut der Weltgesundheitsorganisation WHO bis zu ein Prozent der Menschen von dieser Entwicklungsstörung, die sich oft schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht, betroffen.
Ohren übernehmen Aufgaben von Augen
Auch Katja Schöffmann bemerkte schon früh, dass sie irgendwie „anders“ ist als ihre Freunde. Die Diagnose Asperger-Autismus bekam sie erst vor drei Jahren: „Ich war zum Beispiel noch nie in der Disco, weil mir das viel zu laut wäre. Ich habe eine Sehbehinderung. Ich sehe nur auf einem Auge und meine Ohren sind mein primäres Sinnesorgan.“
Auch Emotionen werden intensiver wahrgenommen
Greta Thunberg sagt, Autismus wäre eine Superkraft. Schöffmann sagt, sie würde das zu 50 Prozent bejahen. Zu 50 Prozent sei die Bewältigung des Alltags oft sehr schwierig und man habe Probleme im Sozialen, weil man anders reagiere als andere Menschen. Gleichzeitig sei es laut Schöffmann aber auch schön, weil man drei Mal intensiver Emotionen und mit den Sinneseindrücken die Welt wahrnehme als andere Menschen, die nicht vom Autismusspektrum betroffen seien: „Das ist dann so, wie wenn man von einem anderen Planeten kommt.“ In der Fachsprache wird die Erkrankung auch „Wrong Planet Syndrome“ (deutsch: Falscher-Planet-Syndrom)“ genannt.
Projekt ermöglicht bedarfsgerechtes Wohnen
Beim Projekt „Senshome“ geht es darum, auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen, aber auch ihrer unmittelbaren Kontaktpersonen einzugehen – ihre Wohnumgebung soll so normal wie möglich und gleichzeitig so besonders wie nötig gestaltet werden.
Birgit Bierbaumer, Klinische und Gesundheitspsychologin: „Menschen unterscheiden sich individuell sehr stark. Kennt man einen Menschen mit Autismus kennt man genau einen Menschen, dementsprechend ist es auch wichtig, dass alles, was es an Unterstützungsmöglichkeiten gibt, individuell auf die Person eingestellt werden kann.“
Möbelstücke werden mit Sensoren ausgestattet
An der Fachhochschule Kärnten in Klagenfurt wird an einer Modellwohnung gearbeitet. Verschiedene auf den ersten Blick gewöhnliche Möbelstücke werden mit speziellen Sensoren ausgestattet, die auch Gefahren anzeigen.
Dazu zählt zum Beispiel, dass die Wohnraumtemperatur als angenehm empfunden wird. Der Computer weiß um die individuellen Bedürfnisse Bescheid und greift unterstützend ein.
Lukas Wohofsky, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, sagt, alles, was ein potenzieller Stressfaktor für Personen im Autismus-Spektrum ist, werde von den Sensoren wahrgenommen: „Die Informationen werden weiterverarbeitet und an die Person zurückgespielt. Wenn etwa ein greller Lichtreiz kommt, wenn die Sonne zum Beispiel beim Fenster hereinstrahlt, wird das von den Sensoren erkannt. Die Auswirkung daraus kann sein, dass dann die Jalousie automatisch runter fährt.“
Struktur gibt vielen Menschen im Autismus-Spektrum Halt – geregelte Tagesabläufe und elektronische Planer zum Beispiel helfen dabei, den Überblick zu bewahren.
Sendungshinweis:
Servus, Srecno, Ciao; 19.6.2021
Sensoren zeigen auch an, wenn unerwartete Situationen, die einen aus dem Gleichgewicht bringen können, bevorstehen: in diesem Fall – wie viele Besucher konkret plötzlich vor der Türe stehen.
Das Projekt „Senshome“ wird vom Europäischen Fonds für Regionalentwicklung und vom Kärntner Wirtschaftsförderungsfonds (KWF) unterstützt und hat eine Projektsumme von fast einer Million Euro – aufgeteilt auf vier Projektpartner.
Italienische Projektpartner steuern Erkenntnisse bei
Architekturdesign hat für die italienischen Projektpartner von „Senshome“ auch eine soziale Komponente. Sie erforschen ihrerseits, wie bei der Ausgestaltung der Einrichtung auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Autisten besser eingegangen werden kann. Dabei sind sie schon auf aufschlussreiche Erkenntnisse gestoßen. So sieht das Labor des Projektpartners er Universität von Bozen aus – hier sollen vor allem die Geräusche erforscht werden.
Sessel ermöglichen Rückzug in Stresssituationen
Regelmäßig finden auch Workshops mit betroffenen jungen Erwachsenen aus der Region Friaul Julisch Venetien statt. Ihre Eindrücke und Rückmeldungen fließen in die Prototypen ein, die später von Tischlern gefertigt werden. Je nach Bedürfnis können die „intelligenten Möbelstücke“ bereits eingerichtete Wohnräume sensibler machen.
So entstehen zum Beispiel spezielle Sessel, die als Rückzugsort dienen und die Betroffenen von Umwelteinflüssen abschirmen sollen, so Giuseppina Scavuzzo: „Man kann diesen Stuhl schließen. So kann sich ein Betroffener oder eine Betroffene etwas beruhigen, wenn er oder sie sich durch eine Überreizung – zum Beispiel durch Lärm – irritiert fühlt.“
Familienessen durch Tische mit Trennwänden möglich
Auch Tische mit ausklappbaren Trennwänden zum Sichtschutz sind in Planung. Sie sollen ein gemeinsames Essen bei Tisch mit anderen Personen oder Familienmitgliedern ermöglichen.
Giuseppina Scavuzzo sagt, durch die Trennwände werde die Privatsphäre erhöht, was manche Betroffene schätzen würden, weil sie unter Umständen nicht selbst beim Essen beobachtet werden oder anderen dabei zusehen möchten.
Spezielle Boxen erkennen Reizüberflutung
Geplant sind auch Boxen, die auch in gewöhnliche Einbaumöbel integriert werden können. Sie zeigen durch Sensoren eine Reizüberflutung durch Fernsehprogramme oder Computerspiele an.
Was die Farbwahl der Gegenstände betrifft brachte das Projekt interessante Erkenntnisse, sagt Giuseppina Scavuzzo: „Oft werden in internationalen Studien für Autisten sanfte Pastellfarben empfohlen. Wir haben aber gesehen: keiner unserer Probanden bevorzugt tatsächlich solche Farben.“
Daniela Krainer, Projektleiterin von „Senshome“ an der FH Kärnten, sagt, das Projekt sei vorerst für den privaten Alltag angedacht; die Ergebnisse werden einerseits in Produkte übergeführt. Andererseits könnten die Erkenntnisse auch für den beruflichen oder schulischen Alltag herangezogen werden oder bei der Gestaltung von öffentlichen Räumen, zum Beispiel Museen, hilfreich sein.
Forschung nimmt nach Pandemie wieder Fahrt auf
Pandemiebedingt verzögerte sich die Projektumsetzung etwas. Die Partner in Kärnten und Italien rechnen aber damit, in den nächsten Monaten wieder intensiver weiterarbeiten zu können. In zwei Jahren sollen dann die Endergebnisse des Projektes „Senshome“ vorgestellt werden – die Menschen mit Autismus einen sicheren und angenehmen Alltag ermöglichen sollen.