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New Africa – stock.adobe.com
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Gesundheit

Familiengeheimnisse kommen ans Licht

In jeder Familie gibt es Geheimnisse, Vorfälle und Begebenheiten, über die niemand sprechen will. Es sind Mauern des Schweigens, errichtet aus Schuld, Scham und Überforderung. Psychiater Herwig Oberlerchner lüftet in seinem Buch „Das Schweigen wird laut“ die Geheimnisse seiner Familie stellvertretend für viele.

Viele schweigen in der Hoffnung, dass sich ein Mantel des Vergessens über unliebsame Geheimnisse breitet und nachfolgende Generationen nicht mehr fragen. Doch es gibt oft doch jemanden, der mehr wissen will und Fragen stellt. Wenn diese Person in der Familie dann auch noch Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist, kommt Vieles ans Licht. Oberlerchner ist Vorstand der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt und beschreibt in seinem Buch den Umgang mit der vermeintlich heilen Welt und ihren dunklen Wahrheiten.

Interesse an Biographien der Klienten

Für Psychotherapeutinnen und Therapeuten ist es an sich nicht unüblich, in die Tiefe zu gehen, wenn es um Schicksale geht. Viele Klienten wurden von Oberlerchner begleitet, er lernte ihre biografischen Besonderheiten kennen. Dazu interessierten ihn auch außergewöhnliche Biografien, die zu persönlichen Einsichten führten: „Ich habe mich in der Vergangenheit sehr intensiv mit der Geschichte des Kaspar Hauser beschäftigt, ich habe eine Psychografie über Thomas Bernhard geschrieben, aber voriges Jahr ist mir ins Bewusstsein gekommen, dass die Biografie, in die ich am tiefsten eingetaucht bin, meine eigene ist.“

Sammlung von Episoden

Im Rahmen seiner Ausbildung habe er viele Jahre Einzelselbsterfahrung und Gruppenselbsterfahrung gemacht. Es habe einige Ereignisse in der Familie gegeben, die ihm gezeigt hätten, dass er tatsächlich etwas Besonderes entdeckt habe, wovon er auch im Buch schreibe.

Da wird erzählt von einer wiedergefundenen Großtante in Kanada, die im Familiengedächtnis gut verborgen lag: „Nachdem ich meine eigene Biografie durchforstet habe, hab ich gemerkt, dass viele eigenartige Episoden vorkommen und habe angefangen, das zu Papier zu bringen. Aber nicht im Sinn einer Genealogie sondern einer Sammlung von Familienepisoden.“

Oft hochgradige Tabus

Beim Schreiben orientierte sich Oberlerchner an den Arealen de Schweigens: „Es gibt in Familien ja Themen, die hochgradig tabuisiert sind, wo die Generationen miteinander nicht ins Gespräch gekommen sind. Das sind oft Areale, wo es zu Traumata kam, wo Menschen mit Inhalten der Biografie konfrontiert sind, die peinlich sind und für die es oft keine Sprache gibt. Für diese Areale in meiner Familie habe ich immer spitze Ohren gehabt und wollte diese dunklen, verschwiegenen Areal ausleuchten.“

Gerade diese tabuisierten Bereiche des Verschwiegenen und Verleugneten kommen im Buch zur Sprache. Dem Therapeuten ging es mit seiner Familiengeschichte darum, dass das Transgenerationale Schweigen gebrochen werde und sich Licht in dunkle Seelenregionen bahne.

Schweigen, wenn Kinder den Raum betreten

„Den Finger auf die Lippen legen, das Heimlichtun, hat mich immer unheimlich fasziniert. Ich wusste immer, da ist etwas Spannendes. Die Suizide in der väterlichen Seite der Familie waren zwar bekannt, aber sie sind nicht zur Sprache gekommen. Man hat rote Ohren bekommen, heimlich getan, es war wohl äußerst unangenehm.“ Wer kennt sie nicht, die Erzählungen der Älteren, die von Kindern gern belauscht werden. Auch für Oberlerchner waren es Geschichten voller Geheimnisse.

Primarius Herwig Oberlerchner
ORF
Herwig Oberlerchner

„In den Gesprächen der Erwachsenen sind immer solche Themen angeklungen, für die man wenige Worte hatte, die aber ein Knistern im Raum verursacht hatten. Dem nachzugehen war schwierig. Ich beschreibe in meinem Buch eine Episode, wo ich über Jahre Fragen in meinem Kopf hatte, da war ich schon Therapeut und wagte nicht, die Frage zu stellen. Es gelang dann, meine Großmutter anszusprechen. Ich kann mich an die vegetativen Zustände erinnern, in die ich beim Fragen selbst geraten bin. In Angst und Sorge, das Verlies im Familienschloss zu öffnen.“

„Man fühlt Erleichterung“

Was passiert, wenn sich ein Schloss, ein Tor öffnet: „Interessanterweise Erleichterung. Man fühlt sich entspannt und man hat den Eindruck, dass ein Teil eines komplizierten Puzzels gefunden wurde.“ In der Psychotherapie nennt man es transgenerationale Weitergabe psychischer Strukturen, die viele verschiedene Wurzeln hat, so Oberlerchner: „Man bekommt sprachlich eher nonverbal über Generationen vermittelt, dass es um ein Tabu geht. Wenn die Kinder den Raum betreten wird geschwiegen, indem man von den Angehörigen den Auftrag bekommt, etwas nicht weiterzusagen. Und wenn man es anspricht, dass Verwandte in seelische Ausnahmezustände geraten.“

Für diese Strukturen gebe es zwar Erklärungen und Verstehensansätze, aber restlich geklärt seien sie noch nicht. Tatsache sei, wenn es sich um Traumata handle führen diese dazu, dass die Möglichkeit, darüber zu sprechen, ausgeklammert werde. Das könne man sich wie eine Lähmung des Sprachzentrums vorstellen. „Man findet dann keine Worte.“

Vieles will ans Licht

Er könne sich an Erzählungen der Urgroßeltern und Großeltern erinnern, was den Krieg betreffe und welche fürchterlichen Erlebnisse Urgroßvater und Großvater im Ersten Weltkrieg an der Isonzofront hatten und im Zweiten Weltkrieg vor Stalingrad. Diese Erinnerungsfetzen seien nie im Kontext erzählt worden, sondern bei Familienabenden irgendwann angerissen und angedeutet worden seien.

Und doch will da etwas ans Licht. Für Oberlerchner wird da das Schweigen laut: „Das Schweigen wird laut das meine ich aus einem Zustand in mir, das Drängen nach Wissen und Einordnung, das Drängen auf Klarheit. Das war etwas, wo ich hartnäckig war und immer wieder nachgefragt habe. Der Urgroßvater mütterlicherseits ist 1923 nach Kanada ausgewandert, da gab es Mythen, was er dort gemacht hat. Einen letzten konkreten Brief gab es 1961. Ich habe gehört, dass er drüben eine neue Familie gegründet hat und offenbar war es meine Aufgabe, nachzuforschen.“

Tante in Kanada gefunden

Es sei ihm dann über einen Suchdienst gelungen, eine Großtante in Kanada zu finden, die von ihrer Familie in Österreich nichts gewusst habe. Er sei im Sommer nach Toronto geflogen und habe diese Tante kennengelernt, so Oberlerchner. Oft kommt die Seele zur Ruhe, wenn sie verstehen lernt: „Zumindest scheint es in meinem Seelenleben so zu sein, dass Dinge, die ich nicht verstehe und nicht einordnen kann, mich nicht zur Ruhe kommen lassen.“ Es gehöre Mut und Konsequenz dazu, dem nachzugehen.

Auf der anderen Seite kann es auch sein, dass viele mit den versteckten Wahrheiten nicht behelligt werden wollen: „Das habe ich auch in meiner Familie erlebt, lass das ruhen, warum das Thema aufbringen. Das widerspricht aber meiner Einstellung um das Wirken von Psychotherapie. Eine Wunde heilt nur, wenn man den darunter angesammelten Eiter an die Oberfläche bringt.“

Heilung durch das Brechen von Schweigen

Man kann nur Heilung erfahren, wenn man sich durcharbeitet. Durch Ereignisse, durch Mauern des Schweigens, durch Biografien, so der Arzt und Therapeut: "Das ist in allen Psychotherapieschulen eines der zentralen Merkmale, dass Dinge, die verschweigen werden, Verletzungen erst dann heilen können, wenn man sie zur Sprache bringt. Oberlerchner nahm sich seine Familiengeschichte vor und schaute sich auch aus dem Blickwinkel des Psychiaters und Therapeuten an.

„Es ist ein befruchtendes Miteinander und Nebeneinander. Was ich mit meinen Klienten erleben darf hat auch auf mich und meine Haltung Einfluss gehabt. Meine eigene Vorgehensweise den Familiengeschichten gegenüber hat mich bestärkt, meine Klientinnen und Klienten auch zur Auseinandersetzung mit Familiengeheimnissen zu motivieren.“

Stolz statt Scham

Hinschauen könne gut tun, davon ist Oberlerchner überzeugt. So raubt Verschwiegenes nicht mehr Lebenskraft und Lebensenergie: „Dieses Gefängnis des Schweigens und Schuldgefühls kann man mit dem Reden zu Freiheit umformen. Statt Scham dann Stolz auf die Familie, statt Sprachlosigkeit die Fähigkeit, zu erzählen und statt Schuldgefühl die Freiheit des Lebens.“