Experte: Familien verarmen immer mehr

Der ehemalige Richter und Sozialexperte aus Deutschland, Jürgen Borchert, hat am Donnerstag eine Vortrag im Landhaus Klagenfurt über die Lage der Familien gehalten. Er fordert mehr Entlastung, denn Familien würden immer mehr verarmen.

Borchert war jahrelang Vorsitzender der Richter des hessischen Landessozialgerichtes. An mehreren die Familienpolitik Deutschlands betreffenden Urteilen (u.a. „Trümmerfrauenurteil") war er maßgeblich beteiligt. Er ist Verfasser vieler Veröffentlichungen zur Familienpolitik und zur Reform des Sozialstaates (u.a."Sozialstaatsdämmerung“) und gilt auf Bundes- und Landesebene als profunder Berater zu diesen Themen.

„Gesellschaften der Lohnempfänger“

Er war am Donnerstagnachmittag zu Gast in Radio Kärnten und verglich die deutsche mit der österreichischen Situation. Beide Staaten seien in der gesellschaftlichen Organisation ähnlich. Es seien Marktgesellschaften mit Lohnempfängern, das habe für Familien Konsequenzen. Löhne seien Markteinkommen und völlig blind dafür, wie viele Menschen davon leben müssen. Man sehe hier nur die einzelne Arbeitskraft. Bei der primären Einkommensverteilung seien Familien von vorne herein im Nachteil.

Staat sollte Ungerechtigkeiten ausgleichen

Der Staat müsste über das Steuersystem diese Nachteile ausgleichen. Der Löwenanteil der fiskalischen Einnahmen stamme aber von Verbrauchssteuern, so Borchert. Und Verbrauchssteuern seien Abgaben, die Familien besonders belasten. Je mehr Mitglieder vom Lohn leben müssen, desto höher ist der Verbrauchsanteil und härter der Zugriff des Staates. Das sei die regressive Abgabenlast. Die Steuer auf das Einkommen verlaufe progressiv.

Sendungshinweis:

Family; 3. November 2016

Bei der Sozialversicherung sei es noch schlimmer. In Deutschland sei sie, ähnlich wie in Österreich, an das Einkommen gekoppelt. Sie habe einen linear-proportionalen Tarif, der für den 1.000-Euro-Verdiener die gleiche Höhe habe wie für den 5.000-Euro-Verdiener, nämlich einen bestimmten Prozentsatz.

Familien greifen doppelt in die Tasche

Der Beitrag werde aber für Personen mit und ohne Kinder in gleicher Höhe erhoben. Familien müssen also nochmal tief in die Tasche greifen. Es gebe dadurch in Deutschland eine doppelte Kinderarmut. Jedes vierte Kind sei in Sozialhilfe. „Die Politik sagt offen, wir haben weniger Kindern, sparen daher an den Schulen. Man merkt gar nicht, dass das Raubbaueffekte sind.“ Man investiere nicht mehr in den Nachwuchs. Was man an Kindern spare, verjuble man in den Konsum.

„Politik verschleiert“

Die Frage, warum ein Raubbau an der Zukunft unternommen werde sei schwierig zu beantworten, weil es ein vielschichtiges Phänomen sei. Wichtig sei, dass man sich mit einer Semantik verständige, die die wesentliche Sachverhalte völlig verhülle. Die Politik veranstalte geradezu Schleiertänze.

Ein Begriff sei Rentenversicherung - jeder hat die Vorstellung, mit meinen heutigen Beiträgen sei seine Zukunft gesichert. Das sei aber gar nicht so. Die Rentenversicherung sei keine Versicherung mehr, das sei zu Bismarcks Zeiten so gewesen, als die Menschen nicht so alt wurden. Da starben sie mit 40, das Pensionsalter betrug 70. Denn eine Versicherung versichere nur die Abweichung von der Norm. Heute werde man rund 80 Jahre alt, das Rentenalter werde gerade auf 67 erhöht.

Funktionale Analphabeten kommen aus Schulen

Die doppelte Kinderarmut bedeute nicht nur ein Zunahme von alten Menschen, sondern die Kinder, die in Armut aufwachsen in der Bildungsfähigkeit beschädigt werden. Die heute Alten stehen vor einer breiten Lawine der Altersarmut. Existenzangst macht Menschen verführbar für Extremisten.

Man müsse sich in Deutschland fragen, was passiert, wenn die Rente wackle. Dann rase der Mob, dann komme die Demokratie in Schwierigkeiten. Sozialstaat und Demokratie seien siamesische Zwillinge, so Borchert. Borchert sprach auch über Eltern, die gezwungen seien, über ihre Kräfte zu arbeiten. Väter arbeiten zwei Stunden länger als Nicht-Väter, Frauen, die Mütter seien, arbeiten oft rund um die Uhr und seien oft in prekären Dienstverhältnissen. „Das führt dazu, dass der Schonraum für Kinder in der Familie immer weniger vorhanden ist.“

Eltern mit Kindern verarmen

Das ändere aber nichts an der Kinderarmut, im Gegenteil. Das führe dazu, dass Deutschland nicht nur 150.000 Kinder als funktionelle Analphabeten entlässt, sondern dass man erlebe, dass die guten deutschen Abschlüsse ins Ausland wandern. Rund 100.000 junge Menschen mit guten Abschlüssen verlassen Deutschland. Die Brutto-Netto-Kluft, die vor allem durch die Sozialversicherung gerissen werde, sei enorm.

Die jungen Leute sehen, dass sie mit einem Einkommen von 35.000 Euro mit zwei Kindern unter dem Existenzminimum landen - das sei für gute Leute nicht attraktiv. Es gehe darum, dass man Familien im Abgabensystem gerecht behandelt, so Borchert. Sie müssen vom Bruttogehalt mehr behalten dürfen.

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