„Sucht ist ‚Nicht-Aufhören-Können‘“

Wer süchtig ist kann und will nicht aufhören, er verliert die Freiheit und wird von der Sucht kontrolliert. Sein ganzes Berufsleben lang widmete sich Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller den dunkleren Seiten der menschlichen Natur in der Suchtforschung.

„Die Sucht ist die Krankheit des Nicht-Aufhören-Könnens und des Nicht-Genug-Kriegens“, definiert Suchtexperte Haller in einem Gespräch mit Radio Kärnten anlässlich eines Vortrags in Kärnten. Wenn jemand süchtig sei, verliere er seine Freiheit, die Sucht übernehme mehr und mehr die Kontrolle. „Ziel jeder Suchtfreiheit muss sein, dass man eine Ordnung hineinbringt und selbst bestimmt, was man konsumiert, was man tut und wie man handelt.“

Sucht hat viele Ursachen

Haller war bis zum Antritt seines Ruhestandes mit Ende des Jahres 2017 über 30 Jahre Leiter des Vorarlberger Behandlungszentrums für Suchtkranke. Besonders am Herzen lag und liegt ihm auch die Suchtprävention. 1990 gründete er z.B. mit „SUPRO“, der Werkstatt für Suchtprophylaxe, die erste Suchtpräventionsstelle Österreichs. Zur Sucht kam er schon als Student, als er kellnerte und sah, wie sich Menschen verändert, die Alkohol trinken. Sucht habe viele Ursachen: genetische Veranlagung, Prägung im Elternhaus, soziales Umfeld und auch individuelle Faktoren. Es gebe Untersuchungen, wonach Alkoholismus zu 70 Prozent ererbt werde, sagte Haller.

Als Gerichtsgutachter bekannt geworden

Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe. Der 66-Jährige stand vor allem in seiner Rolle als psychiatrischer Gerichtsgutachter immer wieder in der Öffentlichkeit, etwa durch die Fälle Jack Unterweger, Franz Fuchs und den NS-Arzt Heinrich Gross.

Droge Alkohol schon seit der Römerzeit

Sucht sei ein „vielfältiges, schillerndes, sehr faszinierendes“ Phänomen, so Haller, das man nie ganz erklären könne. Es gebe zwar viele wissenschaftliche Modelle, die sagen, dass es diese oder jene Gründe gebe, damit jemand süchtig werde. „Aber eine wirklich stimmige Erklärung dafür gibt es nicht.“ Sucht verändere sich auch ständig.

„Jedes Volk hat seine Droge, das ist bei uns seit der Römerzeit der Alkohol, mit dem wir einigermaßen gelernt haben, umzugehen.“ Später seien andere Drogen dazugekommen, mit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem medikamentöse Substanzen, so Haller. Mitte des 20. Jahrhunderts internationalisierten sich die Drogen, so wie etwa Kokain, das bis dahin nur regional begrenzt verfügbar war.

Glas Alkohol

SALK

Ein Nicht-Süchtiger kann jederzeit nach einem Gläschen aufhören, ein Süchtiger schafft das nicht. Warum genau ist unklar.

Drogen gehen mit dem Zeitgeist

Drogen seien auch Zeichen gesellschaftlicher Entwicklungen. In den 1970er-Jahren, in der Zeit des Flower Power, habe es eine liebliche Droge gebraucht, das sei Cannabis gewesen, in den 80er-Jahren, der Zeit der „no future“-Generation seien es zudeckende Drogen gewesen wie Heroin und Rohypnol. „In den 90er-Jahren gab es weltweit große Aufbruchstimmung, da hat man aufputschende und antriebssteigernde Drogen gebraucht. Heute verwendet man narzisstische Drogen, denn die Gesellschaft ist narzisstisch geworden. Ecstasy und seine Abkömmlinge vermitteln dieses Gefühl.“

Der neue „Trend“ gehe in Richtung Verhaltenssüchte wie Onlinesucht, Handysucht, Kaufsucht etc. Laut Haller werde die IT-Süchtigkeit von den Zahlen her aber etwas überschätzt. Denn es sei ja heute Kommunikation kaum mehr anders möglich als über virtuelle Medien. Daher glaube er, dass die Zahl der User hoch sei, die wirklich Süchtigen seien aber nicht so häufig, so Haller. „Gefährlich wird es aber, wenn das Verhalten reflexartig wird, wenn man das Hirn gar nicht einschalten muss, sondern sich ein Prozess auf einer niedrigeren Ebene abspielt“, wie etwas der dauernde unbewusste Griff nach dem Smartphone.

Rauchen vor Schule

ORF

Der Griff zur Zigarette erfolgt in jeder Situation refelxartig, das ist das Gefährliche

Rauchen ist ein gefährlicher Reflex

Das sei auch beim Rauchen ähnlich: „Rauchen ist im Prinzip keine Sucht, weil die Zigarette keinen Rausch erzeugt. Aber es ist natürlich das gesundheitsschädigendste Verhalten, Rauch ist der Killer Nummer eins.“ Rauchen sei deshalb so gefährlich, weil es sich auf einer Ebene abspiele, die sich nur zwischen den drei Polen Mund, Finger und Tasche bewege. „Es geht mir gut, ich rauche, es geht mir schlecht, ich rauche. Ich bin munter, ich rauche, ich bin müde, immer springt der Reflex an und damit wird das Verhalten entkultiviert und entkontrolliert.“

Abstinenzpausen verhindern Sucht

Jeder müsse bei sich selbst beginnen und immer wieder Abstinenzpausen einlegen, das ist ganz entscheidend dafür, nicht süchtig zu werden, so Haller. „Wenn man sich immer wieder aus dem Netz herausbewegt, immer wieder Tage einlegt, an denen man keinen Alkohol trinkt, nicht raucht und das Verhalten immer wieder radikal unterbricht, glaube ich nicht, dass sich ein Suchtprozess entwickelt.“

Familie leidet mit

Sucht sei laut Haller die Krankheit, die am meisten bagatellisiert und verdrängt werde: „Bei jedem Knochenbruch fühlt sich der Patient schwerst krank und behandlungsbedürftig und sucht mit Blaulicht die nächste Ambulanz auf. Bei der Sucht ist das Gegenteil der Fall, der Patient argumentiert jahrelang, warum er kein Suchtproblem hat. Dass er alles im Griff hat.“ Die Umgebung könne durch konsequentes Hinweisen auf das Problem den Betroffenen in die Position bringen, wo er endlich Hilfe annehme. Es gebe Untersuchungen, wonach unter einem Süchtigen rund zehn andere Personen leiden, in Familie, Freundeskreis oder Arbeitsplatz.

Spielsucht

ORF

Jeder Süchtige hat rund zehn Menschen im Umfeld, die mitleiden

Verfügbarkeit erleichtert Süchte

Bei der Spielsucht habe es einen Quantensprung in den letzten 20 Jahren gegeben, weil auch die Verfügbarkeit gestiegen sei. Haller vertritt die These, wenn man Suchtmittelgebrauch kultiviere, werde die Sucht nicht gefährlich, wie zum Beispiel bei einem Weinkenner, der kaum süchtig werde. Aber da man heute zum Spielen weder Anzug noch Krawatte benötige und auch keinen Ausweis mehr, gehe die Suchtgefahr los.

Viele Verhaltenssüchte entwickeln sich mit der Verfügbarkeit neuer Verlockungen. Bei der Bewahrung vor Sucht gehe es immer um das Bewahren seiner Freiheit. „Man muss darauf achten, dass man nicht nur ein reagierender Mensch ist, sondern agiert. Das Allerwichtigste zu wissen ist, dass Sucht nur die Spitze eines Eisberges ist. Der Sucht zugrunde liegen Minderwertigkeitsgefühle, Ängste, Depressionen, Kontaktprobleme etc. Wenn man sich schützen will, muss man diese Basisstörungen zu bewältigen versuchen.“

Kränkung als Basis für viele Konflikte

Es gebe einen Wechsel von körperlichen Krankheiten hin zu psychischen, so Haller. „Im Jahr 2050 werden die depressiven Krankheiten an erster Stelle noch vor den Infektionen liegen. An zweiter Stelle wird dann die Sucht folgen. Mein Horrorszenario ist jenes, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern könnten, die nicht trotz der vielen Drogen funktioniert, sondern wegen.“ Die Gesellschaft sei eine der Kränkungen. Das werde zwar nicht wahrgenommen, aber die Basis für viele Trennungen und Leid bis hin zu Terroranschlägen oder Kriegen sei Kränkung.

Kaufsucht Einkaufen Shoppen

Pixabay

Kaufsucht ist eine neuere Sucht, die dem Zeitgeist von Besitz und Shoppen entspricht, denn Süchte ändern sich mit der Gesellschaft und ihren Normen.

Von der Suchtforschung hätte sich Haller erwartet, dass sie mehr über die Ursachen des Kontrollverlusts herausfindet, der jeder Sucht zugrunde liege. Wie sei es möglich, dass ein Mensch nicht kontrolliert trinken könne. Ein Nicht-Süchtiger könne jederzeit aufhören, ein Süchtiger könne das nicht. „Warum das so ist, ist leider das große Geheimnis der Suchtforschung.“

Ein guter Therapeut hat Empathie und Neugier

Zu den Therapeuten sagte Haller, wenn zwei Dinge verlorengehen, dann sollte man aufhören: „Das eine ist, wenn die Empathie nicht mehr lodert, dann kann man Menschen nicht behandeln. Das zweite ist, wenn die Neugierde verlorengeht, wenn man das Gefühl hat, alles schon gesehen und gehört zu haben, geht das in Richtung Burnout und man sollte sich aus dem Beruf zurückziehen.“

Links: