Autismus: Eine andere Sicht auf die Welt

Anna Weicsek ist Mutter von zwei Kindern und Autistin. Für den Verein Integration Kärnten hält sie Vorträge über die Welt der Autisten. Für sie ist es keine Störung, sondern eine andere Art der Wahrnehmung.

In der Fachliteratur ist von einer „Autismus-Spektrum-Störung“ die Rede. Anna Weicsek sagte auf die Frage, ob nun Autismus eine Behinderung, eine Krankheit oder eine Störung sei: „Gar nichts, weder Störung noch Krankheit, noch Behinderung. Es ist eine neue Möglichkeit, die Welt zu entdecken, zu sehen, zu spüren, zu riechen und zu empfinden.“

Spannende Einsichten für „Normale“

An ihren Vorträgen mit dem Titel „Zwischen den Welten“ nehmen betroffene Eltern, Lehrer oder Betreuer teil, alle, die sich für Autismus interessieren oder mit Autisten arbeiten. Sie bietet einen interessanten Einblick in ihre Welt. Man merkt Anna Weicsek im Gespräch nicht an, dass sie anders empfindet, sie lacht, spricht ganz offen.

Im Lauf der Jahre lernte sie, sich gesellschaftlich anzupassen, vieles kostete Überwindung. Von der Spannung in ihrem Inneren, die sich in schwierigen Situationen aufbaut, merkt man nichts. Doch alleine das Lesen von Gesichtern ist für sie ein Problem. Ihr Gehirn kann Gesichtsausdrücke nicht interpretieren, ein häufiges Problem von Autisten.

Anna Weicsek Autismus

Privat

Anna Weicsek

Vom Gefühl in einer fremden Welt zu sein

So individuell wie jeder Mensch ist, so einzigartig tritt Autismus bei jedem Betroffenen zutage. Manche Symptome sind mehr oder weniger stark ausgeprägt. Viele Autisten hätten laut Anna Weicsek das Gefühl, in einer fremden Welt gelandet zu sein. Asperger-Autismus, der oft mit hoher Intelligenz und Begabung einhergeht, heißt nicht umsonst „wrong planet syndrom“. Einem Nicht-Autisten würde sie Autismus so erklären: „Dass es eine andere Art der Wahrnehmung der Umwelt und der Menschen und Eindrücke ist.“ Anna Weicsek hat für sich einen Weg gefunden, damit zurechtkommen, sie meditiert.

Buchteln mit dem Maßband backen

Ein Autist braucht geregelte Abläufe, macht sich oft Tagespläne. Autisten sind laut Weicsek „Kontrollfreaks“. Sie halten sich genau an Anweisungen, vor allem, wenn sie schriftlich vorliegen, wie etwa ein Kochrezept. Anna Weicsek über das Buchteln-Backen: „Das Buchtelrezept mit dem Germteig ist ganz klar. Dann stand da die Anweisung, den Germteig zu einer Rolle zu formen, in einem Durchmesser zwischen vier bis fünf Zentimetern. Ich habe kurzerhand ein Maßband geholt, hab den Durchmesser dazwischen auf 4,5 gemessen und dann so gemacht.“ Ein „ungefähr“ gibt es für Autisten nicht.

Abweichung des Gewohnten bedeutet Stress

Es gibt auch Autisten, die Autofahren, obwohl das Chaos des täglichen Verkehrs unglaublichen Stress bedeutet. So fahren sie nur gewohnte, ausprobierte Strecken. Anna Weicsek schildert, dass sie einmal mit einer Umleitung konfrontiert war, die gewohnte Strecke also blockiert. Sie musste eine aufkeimende Panikattacke unterdrücken, parken und erst einmal einen Kaffee trinken gehen. Nach geraumer Zeit und genauem Überlegen fuhr sie dann der Umleitung nach und entdeckte sogar einen schnelleren Weg als ihre gewohnte Strecke. Für einen Autisten eine außergewöhnliche Leistung, die ihr wieder ein Stück mehr Selbstbewusstsein gab.

Smalltalk Buch mit sieben Siegeln

Ein autistisches Hirn arbeitet anders, Informationen werden anders verarbeitet. Ironie und Humor verstehen manche Betroffene ihr ganzes Leben lang nicht, andere können durch Übung zumindest erkennen, ob jemand einen Scherz macht. Das Verständnis eines Autisten ist buchstäblich, wortwörtlich. Auch die täglichen Höflichkeitslügen, die einem leicht über die Lippen kommen, sind für Autisten nicht durchschaubar. Smalltalk kann Anna Weicsek immer noch nicht. Sie hat ihre eigene Ansicht darüber: „Autisten bleiben in der Sprache rein“. Man muss meinen, was man sagt, dann klappt das Gespräch mit Autisten gut.

Schwieriges Thema Gefühle

Eines der Vorurteile, denen Autisten begegnen ist, dass sie keine Berührung ertragen und keine Gefühle zeigen. Weicsek hat im Alter von 40 Jahren gelernt, kuscheln zuzulassen. Körperlicher Kontakt ist ihr möglich, wenn sie ihn selbst auch nicht wirklich brauchen würde. Manche ertragen Berührungen aber tatsächlich nicht, weil sie viel empfindlicher seien. Die Emotionen eines anderen überwältigen sie.

Wie sieht es mit den Gefühlen aus: „Gefühle hat jeder Mensch, sonst wären wir Cybertronics. Aber wir gehen anders um damit. Wie können sie nicht gleich verarbeiten oder sind überfordert, können sie nicht so zeigen. Es kann passieren, dass man Ventile braucht. Ich komme gefühlskalt rüber, das stimmt aber überhaupt nicht. Ich bin hypersensibel und muss mit Musik meine Gefühle rauslassen.“ Auch hier gilt, jeder Mensch ist anders, jeder Autist ist anders.

Mehr Ausbildung für Lehrer gewünscht

Wie sieht Weicsek die Situation von Autisten in der Schule? „Der Ansatz passt, sie sind alle bemüht. Ich würde mir wünschen, dass die Lehrkräfte schon bei Beginn des Studiums verpflichtend Zusatzausbildungen in diese Richtung machen sollten. Da hapert es meiner Meinung nach.“ Sie ist Mutter eines elfjährigen, autistischen Sohnes. Wie funktioniert das: „Sehr cool. Zwei, die dieselbe Sprache sprechen, ganz gut harmonieren. Es ist auch oft witzig, wir gehen offen mit unserer anderen Art um, sind auch sehr humorvoll.“

Sie würde sich wünschen, dass man Autisten einfach fragt, was sie brauchen. Ob an der Schule, in der Familie oder am Arbeitsplatz, Autisten würden von sich aus nicht sagen, was sie stört, sie sind sich dessen oft nicht bewusst. Fragt man sie, dann geben sie ganz normal Antwort, so Anna Weicsek. Um auch anderen Autisten zu helfen, gründete sie eine Gruppe, die sich regelmäßig trifft. Für manche die einzige Möglichkeit, sich auf sozialer Ebene zu treffen. Ganz bewusst vermeidet Weicsek den Begriff „Selbsthilfegruppe“. Es soll einfach ein Zusammenkommen in entspannter Atmosphäre sein.

Petra Haas/kaernten.ORF.at

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