Frau hält Kopf in den Händen Schatten
Kittiphan – stock.adobe.com
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Soziales

Wie man lernt, das Schöne zu sehen

Der Wiener Psychiater und Psychotherapeut Michael Musalek hat aus einer Behandlungsmethode für Suchtkranke das „Orpheus-Projekt“ entwickelt. Es geht um Sucht, den Weg heraus und darüber, wie der Blick für das Positive und Schöne für jeden Menschen eine ganz wesentliche Ressource sein kann.

Michael Musalek war langjähriger ärztlicher Leiter des Anton Proksch Instituts. Für seine innovativen Ansätze in der Behandlung von Suchtkranken wurde er mit dem Goldenen Ehrenzeichen der Republik Österreich ausgezeichnet. Als Vorstand der Sigmund Freud Universität Wien und Berlin erforscht er u.a. die Auswirkung von schönen menschlichen Begegnungen auf die Gesundheit.

Das Motto des „Orpheus-Prinzips“ lautet: „Lebe so, dass es für dich schön ist – und nicht nur für dich allein, sondern auch gemeinsam mit anderen.“ Musalek entwickelte das Prinzip ursprünglich aus seiner Behandlung von Suchtkranken. Es geht um praktische Ansätze, das eigene Leben mit so viel Schönem, Freude und Liebe zu füllen, dass die Schwierigkeiten des Alltags zwar nicht verschwinden, aber in den Hintergrund rücken.

Immer mehr Frauen werden alkoholkrank

Süchte gehen mit der Zeit und verändern sich mit der Gesellschaft, so Musalek: „Es hat sich zum einen verändert, dass leider Frauen viel mehr Suchterkrankungen entwickelt haben als früher, ganz besonders bei der Alkoholerkrankung. Hier haben wir massive Zuwachsraten. Es hat sich auch insofern etwas verändert, als wir uns heute nicht nur mit stoffgebundenden Suchtformen auseinanderzusetzen haben, sondern auch mit stoffungebundenen Suchtformen, also Kaufsucht, Glücksspielsucht und vor allem in den letzten Jahren zunehmend mit der Onlinesucht“

Auch im diagnostischen und therapeutischen Bereich habe sich sehr viel verändert: „Früher ist es darum gegangen, mit aller Gewalt die Abstinenz zu halten. Heute geht es eher darum, den Menschen wieder ein so freudvolles Leben zu ermöglichen, dass das Suchtmittel einfach nicht mehr die Bedeutung für sie hat.“ Menschen kommen in scheußliche Situationen, so Musalek, es gebe Belastungssituationen und es gebe da auch nichts zu beschönigen: „Aber gleichzeitig gibt es auch unglaublich viel Schönes im Leben und dieses Schöne ist nicht nur etwas Nettes und Angenehmes, sondern es ist eine wirkliche Kraftquelle und diese Kraftquelle kann man nützen, um dann mit all dem Scheußlichen und dem Bedrohlichen fertig zu werden.“

Psychiater Michael Musalek
ORF
Michael Musalek

„Viele kennen ihre Stärken gar nicht“

Jeder Mensch habe viele Stärken, nur seien den allermeisten Menschen ihre Stärken gar nicht bewusst. Es gehe darum, die Ressourcen, die Potenziale, die ein Mensch habe, sichtbar zu machen und ihm damit die Möglichkeit zu geben, sie auch wirklich für sich zu nützen, so der Psychiater. Es sei eine wunderschöne Aufgabe weil man sehe, wie Menschen, die nichts mehr für möglich gehalten haben, plötzlich wieder neuen Lebensmut fassen und versuchen, ein für sie selbst schönes und freudvolles Leben zu gestalten."

Dazu beginne man mit ganz einfachen Dingen, mit Sensibilisierungsübungen. Man lasse Menschen an verschiedenen Riechfläschchen schnuppern und frage, welche Unterschiede es gebe. Im zweiten Schritt gehe es darum, dass jemand bewerte, welchen Duft er lieber habe. Hier habe man schon das Wesentlichste erreicht: „Wenn man dann das erste Mal etwas als schön erleben kann, dann erfreut man sich auch dran und dann geht es nur mehr darum, auch zu fragen, was hat früher Freude bereitet, was waren Dinge, die als schön empfunden wurden. Das verstärkt man und so kommt man dann letztlich dazu, dass man den Tag auch wirklich mit Schönem anfühlen kann.“

Viel Schönes werde als normal angesehen

Musalek sagte, die meisten Menschen leben derzeit in sehr schwierigen Zeiten, aber das Schöne sei nicht abgeschafft. Das Schöne gebe es überall, nur man fokussiere nicht mehr drauf: „Das Entscheidende ist, den Menschen wieder eine Chance zu geben, das Schöne wieder erleben zu können und wenn sie dann sich an dem einen oder anderen erfreuen, dann können sie auch selbstständig wieder Neues, Schönes finden.“

Man sei mit so viel Schönem konfrontiert, über das man aber einfach hinweggehe oder es als das Normale ansehe: „Nehmen wir eine schöne Beziehung, die halten wir für das Normale und daher erfreuen wir uns auch dann gar nicht mehr dran. Wenn wir aber wieder lernen, zu sehen, wie wunderbar es ist, einen Menschen kennenzulernen, der freundlich ist, mit dem es angenehm ist, zu sprechen, mit dem es angenehm ist, etwas zu unternehmen, dann ist es eine ganz tief erlebte Freude. Das ist es, was auch ein freudvolles Leben ausmacht.“

„Erziehung setzt auf Leistung“

Es gehe um die vielen kleinen Freuden, die man sich gönne. Das gelinge dem einen Menschen leichter, andere werden mehr daran zu arbeiten haben, so Musalek. „Das große Problem ist, dass wir von unserer Erziehung her leider schon so gedrängt sind, dass wir immer nur Leistung bringen müssen. Eigentlich noch mehr, dass wir Erfolg haben müssen und dass das Schöne etwas ist, was wir uns ein bisschen leisten dürfen, wenn wir sehr viel geleistet haben.“

Der umgekehrte Weg wäre der richtige, dass man zuerst etwas Schönes mache und dann genug Kraft dafür habe, wirklich etwas leisten zu können: „Manche haben das große Glück, Eltern zu haben, die schon diese Freude verbreiten, aber viele leben in einer ganz anderen Situation und es ist dann gar nicht so einfach, auch therapeutisch, sie auch dort wieder hinzuführen.“ Vor allem Suchtkranke haben das Problem, sich nach vielen Fehlern zu fragen, ob sie sich überhaupt freuen dürfen: „Ich sage dann immer, es ist nicht nur erlaubt, sondern es ist gewünscht und gewollt und letztlich ist es ein Muss.“

„Alkohol leider angesehen“

In der Gesellschaft werde Suchterkrankung nie als gut angesehen, es sei immer hoch stigmatisierend: „Es ist eine Krankheit, die als eine minderwertige Krankheit gesehen wird. Manche gehen sogar so weit, dass sie sagen, es ist gar keine Krankheit, sondern die Leute sollen sich einfach nur zusammenreißen.“ Das, was leider angesehen sei, sei es, einen Rausch zu haben, sich zu berauschen, Rauschmittel zu sich zu nehmen, zu viel Alkohol zu trinken oder auch sonstige Drogen zu sich zu nehmen. Das sei mehr oder weniger angesehen und der Alkohol besonders. Da gehe es ja oft so weit, dass man sich dafür entschuldigen müsse, dass man keinen Alkohol trinke. Das sei schon ein eigenartiger Zugang zur zwischenmenschlichen Beziehung, sagte Musalek.

Es gibt keine Suchtpersönlichkeiten

Jeder, der ein Suchtmittel zu sich nehme, habe eine gute Chance, davon abhängig zu werden. Es gebe keine bestimmten Persönlichkeitstypen gibt oder bestimmte Merkmale, ob jemand mehr oder weniger zu Sucht neide, so Musalek: „Das entscheidende und auch der genetische Faktor, der hier eine Rolle spielt, ist, ob man das Suchtmittel gut verträgt oder nicht. Es gibt Menschen, die vertragen Alkohol sehr gut und es gibt andere, die vertragen ihn nicht sehr gut. Solche haben gleich verschiedene Nebenwirkungen und daher keine Chance auf eine Suchtkrankheit.“ Wer ihn aber gut vertrage, habe eine relativ hohe Gefahr. Wenn man dann noch merke, dass die Angstzustände, die Spannungszustände oder auch die Überforderungssituationen mit Alkohol leichter zu meistern seien, neige man dazu, ihn regelmäßig zu sich zu nehmen.

Mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen

Zu seinen Programmen schrieb Musalek auch Bücher: „Es sind zwei Bücher, die jetzt gerade in der Pipeline sind. Das eine ist ein Fachbuch über ressourcenorientierte Suchttherapie, über das Orpheus-Programm, wo es darum geht, im Leben so viel Schönes zu akquirieren, dass das Suchtmittel an Bedeutung verliert.“ Ein zweites Buch sei Vorbereitung, wo es darum gehe, wie man sein Leben insgesamt so schön gestalten könne, dass man genug Kraft habe, mit all den Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden.

Allen Menschen rät Musalek, mit offenen Augen, offenen Ohren, aber auch mit allen anderen sensiblen Möglichkeiten durch die Welt zu gehen und zu erspüren, wo etwas Schönes sei, was man an Freuden erlebe können. Es geht darum, sich selbst einzulassen auf das Schöne. Er selbst gehe gerne, das mache die Gedanken frei. Auch Musik zu hören, in die Musik einzutauchen, sei eine Riesenfreude für ihn und gebe ganz besonders viel Kraft. Dabei sei es nicht so wichtig, ob es Beethoven oder Mozart oder ein moderner Komponist sei: „Aber wenn ich mir das aussuchen kann, Beethoven am liebsten.“

Lernen, mit sich selbst liebevoll umzugehen

Außerdem solle man liebevoll mit sich selbst umgehen: „Die allermeisten Menschen gehen unglaublich lieblos mit sich um. Und ich frage oft meine Patienten, würden Sie dem Menschen, den Sie am liebsten haben, das antun, was Sie jetzt gerade sich selbst angetan haben? Die meisten sind dann ganz perplex und sagen, das würde ich natürlich nie machen, gar keine Frage. Also wir müssen einfach lernen, liebevoll mit uns selbst umzugehen.“ Derzeit sei die Zeit an sich sehr lieblos. Das gehe so weit, dass viele Menschen es als Schwäche ansehen, wenn sie sich nicht durchsetzen können, wenn sie nicht kräftig seien, wenn sie dem anderen nicht zeigen, wer sie seien, sondern einfach liebevoll mit ihnen umgehen. „Das wird das als Schwäche angesehen, was ganz furchtbar ist.“

Denn der Mensch sei ein soziales Wesen, sei auf andere angewiesen, man könne die Probleme selbst nicht alle lösen: „Ich selbst hätte ja gerne einen Unterrichtsgegenstand, der einfach Leben heißt. Wo Menschen all das, was wir aus der Psychologie und der Soziologie wissen, aus der Medizin wissen, Menschen vermitteln. Und ihnen die Chance geben, nicht die Fehler zu machen, die man halt macht, wenn man nie gelernt hat, liebevoll mit jemandem umzugehen.“