An einem eiskalten Jännertag vor 100 Jahren lag In Klagenfurt meterhoch Schnee. Durch diesen kämpfte sich Helene Reichelt, geborene Hammer, zu ihrer neuen Arbeitsstelle durch. Mit Sack und Pack und einem sechs Monate alten Baby auf dem Arm stieg sie die enge Wendeltreppe auf den Stadtpfarrturm empor, erzählt Horst Ragusch, Mitarbeiter im Tourismusverband Klagenfurt und heutiger Türmer, der ihre ersten Eindrücke zitiert: „Am Anfang hab ich wohl geglaubt, ich muss auf und davon rennen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. An die vielen Stufen, an die Einsamkeit, an die Wasserknappheit.“
WC war nur Brett und Eimer
Zur Stelle auf dem Turm kam die gebürtige Jauntalerin eher zufällig, wie im Buch „Klagenfurterinnen – Eine frauengeschichtliche Spurensuche“ von Alexandra Schmidt zu lesen ist. Mit Ehemann und kleiner Tochter suchte sie eine Bleibe, die Wohnungsnot in der Stadt war groß. Die Stelle kam mit einer Wohnung, und so sagte die kleine Familie zu, in der Hoffnung, dass sich später vielleicht etwas Besseres ergeben würde.
Von da an lebte Helene Reichelt auf rund 80 Quadratmetern in luftiger Höhe mit schließlich sechs Kindern und ihrem Ehemann. Aufgrund ihrer Armut war selbst dieser enge Raum für die Familie, damals nach dem Ersten Weltkrieg, Luxus. Auch wenn sie in 45 Metern Höhe auf jeglichen Komfort verzichten mussten, so Ragusch: „Ohne fließendes Wasser, aber schon mit Elektrizität. Das WC war hinter einer Tür, ein Brett mit Loch, darunter ein Kübel. Jeden Tag trug Helene Reichelt die Fäkalien von acht Menschen selbst hinunter, das wollte sie niemandem anderen zumuten.“

Jeden Tag ging es einmal hinunter und wieder hinauf, 225 Stufen. Eine unglaubliche Anstrengung, so Horst Ragusch: „Insgesamt, in 43 Jahren, bewältigte sie den Auf- und Abstieg auf 45 Meter Höhe zur Besucherplattform und der einfachen Wohnung 20.000 Mal. Das sind neun Millionen Stufen, entspricht 101-mal der Besteigung des Mount Everest.“ Das Eintrittsgeld der Besucher gehörte der Familie. Zu den Pflichten der Türmerin gehörte auch das Läuten der Glocken zum Angelusläuten dreimal am Tag und das zweimalige Messen der Außentemperatur.
Mit 90 Jahren im Altersheim gestorben
Vielleicht war dieses tägliche „Fitnessprogramm“ dafür verantwortlich, dass Helene Reichelt das stolze Alter von 90 Jahren erreichte: „Sie starb im Altersheim im Kreise ihrer Familie friedlich.“ Auch, wenn ihr die Familie besonders am Herzen lag, war ihr eine glückliche Ehe mit ihrem Mann Wilhelm nicht vergönnt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 wollte sie die Scheidung. Wilhelm starb aber kurze Zeit danach an einer Krankheit. Sie blieb allein mit ihrer Nachzüglerin, der vierjährigen Hemma, auf dem Turm.“
Sie musste also ihre fünf Töchter und einen Sohn alleine durchbringen. Geld gab es kaum. Von Wohlstand war man weit entfernt: „Trotz der Armut schafften alle Kinder eine gute Ausbildung. Drei der Töchter wurden Lehrerinnen, eine Fürsorgerin, Sohn Wilhelm hätte nach dem Willen des Vaters Tischler werden sollen, aber die Mutter sagte, lern’ etwas. Er schaffte zwar kaum die Matura, studierte aber dann Staatswissenschaften." Wilhelm legte dann eine Karriere als Geschäftsführer eines Molkereiverbandes hin.“
Jüngste Tochter wurde Atomphysikerin
Auch die jüngste Tochter, Hemma, die mit ihrer Mutter am Schluss alleine auf dem Turm lebte, machte nicht zuletzt dank der Fürsorge ihrer Mutter Karriere: „Sie wurde Dozentin für Atomphysik an der Wiener Uni.“ Trotz der Armut habe sich die Familie über drei Generationen durch Bildung ausgezeichnet, so Ragusch. Helene Reichelt wollte allerdings nicht gerne kochen, und oft war das Essen nach der Schule der Kinder nicht fertig oder angebrannt, erzählte Ragusch.
„Helene Reichelt rührte nicht um, sondern las lieber in einem Buch. Diese Liebe zur Bildung ging auf die Kinder über. Ein Enkel, Wolfgang Reichelt, wurde stellvertretender Raumplanungsleiter in Kärnten, ein weiterer leitete die Musikschule Magdeburg, dreimal so groß wie die in Klagenfurt.“ Somit sei die ganze Familie über Generationen der Armut entflohen, durch die Liebe zur Bildung der Mutter, der letzten Türmerin zu Klagenfurt.