Lesung von Leona Stahlmann
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„Bachmannpreis“

Letzter Lesetag mit neuen Favoriten

Der letzte Lesetag am Samstag hat mit den Deutschen Autor/-innen Leona Stahlmann und Clemens Bruno Gatzmaga begonnen. Juan S. Guse (D) gilt als neuer Favorit. Der zweite Österreicher im Bewerb, Elias Hirschl, beschloss den Lesetag.

Auch im Jahr 2022 werden fünf Preise vergeben. Insgesamt gibt es für die Autorinnen und Autoren 60.500 Euro zu gewinnen. Am Samstagnachmittag konnten die Zuschauer und Zuschauerinnen – zwischen 15.00 und 20.00 Uhr – für den mit 7.000 Euro dotierten BKS Bank–Publikumspreis online abstimmen.

Juan S. Guse mit guten Chancen

Der letzte Lesetag begann mit den Deutschen Autor/-innen Leona Stahlmann und Clemens Bruno Gatzmaga. Juan S. Guse (D) gilt als neuer Favorit. Der zweite Österreicher im Bewerb, Elias Hirschl, beschloss den Lesetag.

Das Lese-Finale begann mit Dystopie und Urologie und endete mit Lachern und viel Applaus. Er brachte auch einen neuen Co-Favoriten: Der deutsche Soziologe Juan S. Guse amüsierte mit einem absurden Text, der in der Simulation des Frankfurter Flughafens mitten im Wald endet nicht nur das Publikum bei den 46. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, sondern überzeugte auch große Teile der Bachmann-Preis-Jury.

Der 1989 in Seligenstadt und in Hannover wohnhafte Autor Juan S. Guse folgte mit seinem Text „Im Falle des Druckbabfalls“ dem Ruf von Mara Delius nach Klagenfurt.

Lesung Juan S. Guse
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Lesung von Juan S. Guse

Darin wird eine bis dato unbekanntes und isoliertes Volk im Taunus-Gebiet in Deutschland entdeckt, das den Frankfurter Flughafen nachbaut. Einig waren sich Vea Kaiser und Klaus Kastberger, dass der letzte Satz der „beste letzte Satz des Bewerbs“ sei – mehr dazu in Jurydiskussion Juan S. Guse .

Stahlmann-Text spaltete Jury

Leona Stahlmann (34) wurde in Fulda geboren und lebt in Seehausen am Staffelsee. Sie las am Samstag auf Einladung von Michael Wiederstein ihren Text „Dieses ganze vermeidbare Wunder“, ein Romanauszug über Mutterschaft und Apokalypse, die Überlegungen einer jungen Mutter, die unsicher ist, ob es richtig sei, ein Kind in diese untergehende Welt zu bringen – die Jury war zwiegespalten – mehr dazu in Jurydiskussion Leona Stahlmann, D.

Text führt in Richtung Weltuntergang

In einer apokalyptisch wirkenden Welt erinnert sich Leda an die Geburt ihres Kindes. „In dem Sommer, als Leda im neunten Monat schwanger war, titelten die Zeitungen zum ersten Mal das Überschreiten der Thermometeranzeige bei siebenundvierzig Grad. Sie dachte, es würde unmöglich sein, jetzt noch ein Kind großzuziehen. Dieses Kind großzuziehen. Dann kam das Kind.“ Um dieses Kind, Zeno, kreisen ihre Gedanken. „Jetzt bist du hier, mein Rattenkind, mein Federvieh, aus einem träumenden Nichts herausgefallen und in einer Zumutung gelandet, da musst du jetzt durch…“ Zeno ist mittlerweile zwölf Jahre alt und zwischen den Beschreibungen einer Marschlandschaft geht der Text immer wieder zu existenziellen Fragen zurück: Was zählt der eigene private Kummer, wenn die Welt untergeht?

Leona Stahlmann
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Leona Stahlmann

Mara Delius brachte ein paar Kritikpunkte an dem „ansonsten interessanten, starken Text“ vor und vermisste u.a. die konkrete Ausführung der Apokalypse. „Für mich ist dieser Text das literarische Äquivalent von Fast Fashion“, kritisierte Philipp Tingler und ortete Kitsch: „Dieser Text erschöpft sich in Posen.“ – „Das Thema der Erotik finde ich interessant“, meinte Insa Wilke, kritisierte jedoch stilistische Ungenauigkeiten und dekorative Stellen im Text. Nicht wirklich überzeugend, fand das Klaus Kastberger: „Ob das immer zusammenpasst?“

„Pathos nicht gleich Kitsch“

Am Panta Rhei-Motiv und an anderen mythologischen Anspielungen begeisterte sich Vea Kaiser. „Wir haben es hier mit sechs Versuchen einer Mutter zu tun, dem eigenen Kind das Ende der Welt zu erklären“, ortete Michael Wiederstein Traditionen von „Climate Fiction und Nature Writing“: „Ich glaube, dass man diese Geschichte tatsächlich nur mit Pathos erzählen kann. Pathos ist aber nicht gleich Kitsch.“ Wiederstein sah die Klimadebatte endlich beim Bachmann-Preis angekommen: „Wir wissen längst, was zu tun ist – nur macht das niemand. Genau das kritisiert dieser Text.“ Das sei jedoch noch kein Qualitätsnachweis, konterte Kastberger. Formal sei der Text interessant, in der konkreten Durchführung scheitere er über weite Strecken, so Brigitte Schwens-Harrant.

Auch „Schulze“ polarisierte

Ihr Landsmann Clemens Bruno Gatzmaga, D wurde 1985 in Düsseldorf geboren und lebt in Wien. Brigitte Schwens-Harrant holte ihn zu den 46. Tagen der deutschsprachigen Literatur. Er las „Schulze“ ein Text über einen alternden Mann.

Gatzmagas im Februar 2021 erschienener Debütroman „Jacob träumt nicht mehr“, der in Österreich für den Debütpreis nominiert wurde, hatte einen Einblick in die stressreiche Welt von Marketing- und Werbebranche gegeben. Auch sein Bachmann-Preis-Text spielt in der Wirtschaft. Herr Schulze, offenbar ein wichtiger Unternehmer, der an diesem Vormittag vor die Presse treten muss und den eine jüngere, ehrgeizige Kollegin unter Druck setzt, wacht in der Früh auf „und bemerkt, dass er in die Unterhose uriniert hat“. Zu seiner Frage, wie das passieren konnte, kommt die Sorge, dass seine Frau Elke seine Unruhe bemerken könnte. Doch plötzlich ist Elke gar nicht mehr da und Schulze muss sich alleine fertig machen für seinen Tag. Der Chauffeur wartet bereits und schon tritt er unter Blitzgewitter vor die Mikros. Der Satz „Ich habe einen Fehler gemacht“, liegt ihm auf der Zunge. Als er den Mund aufmacht, ist jedoch stattdessen zu hören: „Mit Verlaub, unser Plan steht.“

Clemens Bruno Gatzmaga Lesung
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Lesung von Clemens Bruno Gatzmaga

Heftige Jurydiskussionen waren die Folge. Kastberger fand den Text „extrem originell“ und toll, nicht nur, weil er endlich die Probleme des alten, weißen Mannes thematisiere, sondern weil er sich auf Klitzekleines konzentriere, die Großes verursachten: „Diese Tröpfchen bringen eine ganze Welt zum Einsturz.“ Erstaunlicherweise gab es diesmal eine Teil-Koalition mit Philipp Tingler: „Im Großen und Ganzen finde ich den Text gut.“ Auch Michael Wiederstein meinte: „Schulze war okay!“ Völlig konträr hingegen Vea Kaiser, die Schulze den Gang zum Urologen empfahl. Schwens-Harrant sah einen „sehr präzise gearbeiteten Text“, auch der Rest der Jury konnte durchaus mehr als drei Tröpfchen in dem Text entdecken.

„Staublunge“ Schlusslicht in Lesereihenfolge

Der Wiener Elias Hirschl ist mit 28 Jahren heuer der jüngste Teilnehmer. Er war Schlusslicht in der diesjährigen Lesereihenfolge und wurde von Klaus Kastberger eingeladen, seinen Text „Staublunge“ zu präsentieren. Das Publikum zeigte sich begeistert.

Großteils geschätzter Zukunftsblick

Der Text erwies sich als absurder Zukunftsblick in eine Welt, in der zwar alle Infrastruktur zusammengebrochen scheint, in der dennoch Wirtschaftsmodellen gehuldigt wird, die genau diesen Zusammenbruch herbeigeführt haben. Die Ich-Erzählerin datet Jonas, Gründer des Start-ups „Same Day Crew“, einem simplen Lieferdienst, der in einer Hausruine am Rande der nach Einstellung des Kohleabbaus zu einer Geisterstadt gewordenen einstigen Industriestadt seine Zentrale hat. Alles bricht zusammen, die ausgebeuteten Fahrradboten streiken, werden entlassen, und machen einen Aufstand. Aber Jonas ist unerschütterlich sicher: „Das wird ganz groß!“ Dann tritt er auf eine weggeworfene Spritze, beginnt zu fiebern, muss ins Krankenhaus. Die Lieferzeit, die er auf fünf Minuten drücken wollte, steht am Ende bei 30 Minuten. Die Welt steht auf keinen Fall mehr lang.

Elias Hirschl
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Elias Hirschl

„Ich finde den Text so mittel – und als ich das das letzte Mal über einen Text gesagt habe, den Herr Kastberger mitgebracht hat, hat er dann gewonnen. Er hat also alle Chancen“, startete Philipp Tingler in die Jurydiskussion. „Zeitlos ist der Text nicht, er ist aber auch nicht schlecht.“ Gewisse Längen orteten neben Tingler auch Mara Delius und Vea Kaiser, die das „herrlich apokalyptische Endszenario“ toll fand und sich „irrsinnig begeistert“ zeigte. „Leicht voyeuristische Armuts-Porno-Szenen“ fand Michael Wiederstein im Text, der für Schwens-Harrant „sprachlich sehr gut funktioniert“ – mehr dazu in Jurydiskussion Elias Hirschl.

Lesegarten unter Publikum beliebt

Das Wetter spielte wunderbar mit. Alle Lesetage konnten zur Gänze mit Lesungen im ORF-Garten bestritten werden. Die Jury saß im Studio, das Publikum teilte sich nach Lust und Laune auf.

Der erste Lesetag brachte angeregte Jurydiskussionen. Ein möglicher Favorit könnte Alexandru Bulucz sein. Auch Eva Sichelschmidt und Leon Engler dürfen sich wohl Hoffnungen machen – mehr dazu in Erster Lesetag auf Gartenbühne beendet.

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Lesung Elias Hirschl
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Publikum im ORF Park bei Lesung von Elias Hirschl
Elias Hirschl
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Elias Hirschl
Lesung Elias Hirschl
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Lesung Elias Hirschl
Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
Lesung Clemens Bruno Gatzmaga
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Lesung Clemens Bruno Gatzmaga
Die Jury
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Die Jury
Brigitte Schwens-Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant
Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger
Vea Kaiser
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Vea Kaiser
Brigitte Schwens-Harrant, Insa Wilke und Michael Wiederstein
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Brigitte Schwens-Harrant, Insa Wilke und Michael Wiederstein
Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger
Insa Wilke
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Insa Wilke
Mara Delius und Philipp Tingler
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Mara Delius und Philipp Tingler
Leona Stahlmann
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Leona Stahlmann
Leona Stahlmann
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Leona Stahlmann

Hitzig fielt der zweite Lesetag der 46. Tage der deutschsprachigen Literatur aus. Barbara Zeman und Mara Genschel beendeten den zweiten Lesetag, letztere mit aufgeklebtem Schnurrbart. Ana Marwan las am Vormittag einen Text über eine Eremitin, die über die Möglichkeit eines Kindes sinniert. Danach der brutale Text einer Knasterfahrung von Behzad Karim Khani und eine irakische Kindheitserinnerung von Usama Al Shahmani – mehr dazu in Kontraste am zweiten Lesetag.

Alle Lesungen und Diskussionen wurden von 3sat live übertragen, auf bachmannpreis.ORF.at und tvthek.ORF.at gestreamt und können „on demand“ abgerufen werden. Die Jurydiskussionen werden als Transkript zusammengefasst und sind als auch Text abrufbar.