Lesung Mara Genschel
ORF/Johannes Puch
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„Bachmannpreis“

Kontraste und Bart am zweiten Lesetag

Barbara Zeman und Mara Genschel beendeten den zweiten Lesetag, letztere mit aufgeklebtem Schnurrbart. Ana Marwan las am Vormittag einen Text über eine Eremitin, die über die Möglichkeit eines Kindes sinniert. Danach der brutale Text einer Knasterfahrung von Behzad Karim Khani und eine irakische Kindheitserinnerung von Usama Al Shahmani.

Mara Genschel wurde 1982 in Bonn geboren und lebt in Berlin. Sie las auf Einladung von Insa Wilke ihren Text „Das Fenster zum Hof“ samt aufgeklebtem Schnurrbart und US-Akzent, was vom Publikum mit Bravo-Rufen honoriert wurde. Als Performance wollte sie die Lesung nicht verstanden wissen. Das sei einfach ihr Style sagte sie zur Jury – mehr dazu in Jurydiskussion Mara Genschel, D.

Sand sorgte für ambivalente Bewertungen

Vor Genschel las Barbara Zeman, A auf Einladung Brigitte Schwens-Harrant den Text „Sand“ über die Reise eines Paares nach Italien. An dessen Ende geht die Protagonistin ins Meer. Die Juroren diskutierten heftig und kamen auf keinen grünen Zweig – mehr dazu in Jurydiskussion.

Lesung Barbara Zeman
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Lesung von Barbara Zeman

Wechselkröte fand Gefallen bei der Jury

Als erste Autorin am zweiten Lesetag ging Ana Marwan an den Start. Sie wurde 1980 in Murska Sobota in Slowenen geboren. Sie lebt in Wolfsthal und las auf Einladung von Klaus Kastberger ihren Text „Wechselkröte“, der bei den Juroren gut ankam.

Der in Marwans Text titelgebende Froschlurch, übrigens „Lurch des Jahres 2022“, wie Juror Michael Wiederstein anmerkte, hat sich in einem verschmutzten Pool angesiedelt und wird von der Erzählerin geborgen und im Wald ausgesetzt. Der vielschichtige Text ist voller Überraschungen – auch für die mit Briefträger, Gärtner und „Poolmann“ verhandelnde Erzählerin, die schwanger wird, obwohl sie die Pille nimmt. Sie stellt sich ihr Kind vor – in den verschiedensten Lebensaltern, bis hin zu 60 und einem unwilligen Besuch bei ihr im Altersheim, „und ich denke mir: Dafür habe ich dich bekommen?“

„Ich fand den Text extrem interessant“, meinte Mara Delius, die „ein sehr feinsinnig aufgebautes, großartiges Porträt einer Eremitin“ in dem Text entdeckte, den Vea Kaiser ebenfalls „sehr gelungen“ fand. Sie lobte die Dekonstruktion zweier Mythen: Haus am Land und Frau mit Kind. „Großartige Sätze“, aber auch ein Zerfallen des Textes in zwei Teile, ortete Philipp Tingler, große Durchdachtheit und starke Sogwirkung lobte Insa Wilke, die sich sehr beeindruckt zeigte.

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Jury im Studio
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Jury im Studio
Lesung Mara Genschel
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Lesung Mara Genschel
Philipp Tingler
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Philipp Tingler
Lesung Eva Zeman
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Lesung Eva Zeman
Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger
Lesung Usama Al Shahmani
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Lesung Usama Al Shahmani
Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger
Behzad Karim Khani
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Behzad Karim Khani
Ana Marwan bei Lesung
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Ana Marwan bei Lesung
Radfahrer im Publikum liest Text mit
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Radfahrer im Publikum liest Text mit
Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens Harrant
Die Jury
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Die Juroren am zweiten Lesetag
Vea Kaiser
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Vea Kaiser
Klaus Kastberger, Mara Delius, Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler
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Klaus Kastberger, Mara Delius, Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler
Mara Delius
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Mara Delius
Vea Delius, Michael Wiederstein, Philipp Tingler
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Vea Delius, Michael Wiederstein, Philipp Tingler
Insa Wilke Juryvorsitzende
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Juryvorsitzende Insa Wilke
Mara Delius und Vea Kaiser
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Mara Delius und Vea Kaiser
Lesung Ana Marwan
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Lesung Ana Marwan

„Sprachlich sehr reif und gut gearbeitet“, befand Brigitte Schwens-Harrant, eine „ganz gelungene Komposition“ sah Michael Wiederstein. „Ein Gänsehauttext!“, fand Klaus Kastberger, der die Spannung zwischen Idylle und Horror lobte, die sich durch den (von ihm eingeladenen) Text ziehe – mehr dazu in Jurydiskussion Ana Marwan, SLO.

Lesung Ana Marwan
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Lesung von Ana Marwan

Karim-Khani nahm Publikum mit in den Knast

Aus Teheran stammt der 1997 geborene Behzad Karim Khani, D, der als zweiter am zweiten Lesevormittag an den Start ging und einen harten Text mit dem Titel „Vae victis“ (lat. „Wehe den Besiegten“) präsentierte. Der Betreiber der Lugosi-Bar in Berlin-Kreuzberg, der von Philipp Tingler eingeladen wurde, schildert darin die Einlieferung des jungen Saam ins Gefängnis. Schon beim Transport entschließt er sich, von Anfang an sein Schicksal dabei selbst in die Hand zu nehmen, und schlägt einen deutlich schwereren Mithäftling brutal zusammen. Eine noch längere Strafe und Einzelhaft ist die Folge, aber auch eine höhere Überlebenschance in dieser Umgebung. Ob er dabei auch seinen Verstand behalten kann, bleibt fraglich. Der Text ist ein Auszug aus dem Debütroman „Hund, Wolf, Schakal“, der im August bei Hanser Berlin erscheint.

Einen Genretext, der gleichzeitig aber auch seine Begrenzungen erkennen lasse, ortete Juryvorsitzende Insa Wilke. Unmotiviert zusammen komponiert fand Wiederstein Stellen eines offenbar größeren Textes, der durch Eingriffe eines Lektors „doppelt so gut“ werden würde. „Große Probleme mit den Perspektivwechseln“ hatte auch Vea Kaiser, die gleichzeitig die beschreibenden Elemente lobte. Ein „faszinierendes Gewebe aus unglaublicher Härte und großer Feinheit“ nahm Tingler in dem Text wahr, der sprachlich unglaublich virtuos gearbeitet sei: „Das ist das, was ich von Literatur erwarte.“ Kastberger konnte „durchaus nachvollziehen, dass man den Text gut findet“, hatte aber ein „Problem mit der Credibility des Textes“, der nur angemaßt wirke: „Zuviel Testosteron!“. Hier die Jurydiskussion zum Nachlesen.

Behzad Karim Khani
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Lesung von Behzad Karim Khani

Gute Kritiken für Kinderheitserinnerungen an Irak

Dritter Autor im Bunde war am Freitag Usama Al Shahmani, CH/IQ. Er stammt aus Bagdad, Irak, wo er 1971 geboren wurde. Aktuell lebt er in Frauenfeld in der Schweiz und wurde von Michael Wiederstein mit seinem „Porträt des Verschwindens“ nach Klagenfurt geholt. Schon im August erscheint sein neuer Roman „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“. Wie schon am ersten Tag bei Eva Sichelschmidt spielt auch hier die Großmutter der Erzählers eine wichtige Rolle. Sie ist Analphabetin und lässt sich auch von ihrer Freundin, der Apothekerin Aschuak, die arabischen Buchstaben nicht beibringen, obwohl sie ihr extra verzierte Buchstaben aus Holz anfertigen ließ. Als das erste Gedicht ihres Enkels in der Zeitung veröffentlicht wird, fährt sie sanft mit dem Zeigefinger über die gedruckte Namenszeile: „Ich möchte deinen Namen spüren, sagte Großmutter.“

„Ich könnte diesem Autor noch viel länger zuhören“, lobte Juror Kastberger etwa die unterschiedlichen Vermittlungsformen von Geschichte und Erinnerung in den Figuren von Enkel und Großmutter, sowie den immer wieder durchschimmernden Witz und Humor. „Sehr schön erzählt“, fand das Schwens-Harrant, während Tingler eine volle Breitseite abschoss: Der Text strotze vor Konventionalität. „Dieser Test ist so konventionell, als hätte ein Algorithmus ihn geschrieben.“ Betulich und konventionell fanden den Text Mara Delius und Vea Kaiser, „ruhig und einfach“ nannte es hingegen Wiederstein – und damit geradezu revolutionär für die von Pathos geprägte Literaturtradition von Iran und Irak. Ambivalent zeigte sich Insa Wilke bei ihrer Beurteilung – mehr dazu in Jurydiskussion Usama Al Shahmani, CH/IQ.

Usama Al Shahmani bei Lesung
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Lesung von Usama Al Shahmani

Die weitere Lesereihenfolge

Am Samstag komplettieren Leona Stahlmann, D (10.00 Uhr), Clemens Bruno Gatzmaga, D (11.00 Uhr) und Juan S. Guse, D (12.30 Uhr) das Feld der 14 Lesenden.

Der Wiener Elias Hirschl, A ist mit 28 Jahren heuer der jüngste Teilnehmer. Er ist Schlusslicht in der diesjährigen Lesereihenfolge und wird seinen Text am Samstagnachmittag präsentieren. Die Burgenländerin Barbara Zeman, Ain diesem Jahr die zweite Österreicherin. Sie ist am Freitagnachmittag an der Reihe.

Lesungen heuer im ORF Garten

Nach zwei der Pandemie geschuldeten digitalen Jahren findet der Bewerb 2022 wieder in Anwesenheit der Lesenden und auch mit Publikum statt. Die Lesungen werden diesmal nicht im Sendestudio, sondern auf einer Bühne im ORF Garten stattfinden. Die neue Lesebühne hält zwar Regen aus, im schlimmsten Fall übersiedeln die Autorinnen und Autoren ins ORF-Theater.

Publikum im ORF Park
ORF/Johannes Puch

Der in den USA lebende Autor Hannes Stein eröffnete die Lesungen 2022 am Donnerstag. Ihm folgten Eva Sichelschmidt, Leon Engler, Alexandru Bulucz und Andreas Moster. Es wurde teilweise heftig darüber diskutiert, einig war sich die Jury selten. Lob gab es für Engler, Sichelschmidt und Bulucz – mehr dazu in –Wohlwollende Diskussionen zum Auftakt.

Mittwochabend fanden die feierliche Eröffnung der 46. TddL und die Auslosung der Lesereihenfolge statt – mehr dazu in Bachmannpreis „wie früher“.