Wenn Perfektionismus zum Zwang wird

Viele Menschen sagen mit Stolz von sich, sie seien Perfektionisten, das klingt nach Fleiß und Genauigkeit. Eigenschaften, die im Beruf gefragt sind. Doch Perfektionisten haben insgeheim das Gefühl, nicht zu genügen, so der Psychiater Raphaell M. Bonelli.

Im seinem Buch „Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird“, beschreibt Bonelli, was Perfektionisten antreibt und warum ihr Leben vom Muss bestimmt wird. Für den Psychiater fängt es schon damit an, dass Perfektionismus in der Gesellschaft falsch verstanden wird: „Perfektionismus besteht darin, dass ich die Perfektion vorschiebe, weil ich den Leuten zeigen will, dass ich keine Fehler habe und tadellos bin. Die Leute sollen mich nicht tadeln, weil ich panische Angst vor Tadel habe.“

Das Problem ist für den Psychiater also die Motivation und nicht die Handlung an sich. Er sagt, man könne motiviert sein und sagen, man wolle gut arbeiten. „Man kann aber auch motiviert sein, dass man sagt, man möchte gut da stehen. Zweiteres ist bei Perfektionisten der Fall.“

Endstation Burnout

Deshalb kommen solche Leute auch sehr häufig ins Burnout. Für Bonelli hat Burn out nichts mit zuviel Arbeiten zu tun. „Burnout ist, aus den falschen Gründen zu arbeiten und nicht mehr wahrzunehmen, wann man aufhören soll. Der Perfektionist möchte wertgeschätzt werden.“ Das Streben danach, Teil der Gruppe zu sein, treibe ihn. Er könne aber keine Fehler zugeben. „Er glaubt, wenn er einen Fehler zugebe, bin ich nicht mehr Teil der Gruppe und nicht mehr liebenswert. Das Liebenswerte ist verknüpft der Perfektionist mit seiner eigenen Leistung. Wenn ich nichts leiste, bin ich nicht liebenswert.“

Experte: Helikopter-Eltern tun Kindern nichts Gutes

Ideale im Leben seien sehr wichtig, aber der Unterschied zwischen Perfektionismus und dem ehrgeizigen Streben, seine Sache einfach gut machen zu wollen, liegt in der panischen Angst, Fehler zu machen, so der Experte: „Der Perfektionist hat panische Angst vor Tadel und einen Horror vor Kritik." Deshalb ist für den Psychiater Perfektionismus im Grunde eine Angsterkrankung. Er sagt, es handle sich um die panische Angst vor der eigenen Sicherheit und dem eigenen Ich. Das soll entspricht einer hohen Latte und ist deutlich über dem Ist, wo ich bin. Also ich sollte wo anders sein, wo ich bin.“

Perfektionisten kommen nicht als solche zur Welt. Die Gesellschaft, vor allem die Erziehung, spielt eine enorm wichtige Rolle: „Wenn die Mutter oder der Vater ständig unter der Rutsche stehen und sagen: ‚Pass auf, dass du nicht fällst.‘ Das Kind erlebt, dass die Welt gefährlich ist. Heutzutage haben wir sehr viele perfektionistische Eltern. Man nennt sie Helikopter-Eltern. Sie haben eine panische Angst davor, dass die Kinder nicht gut genug sind. Deswegen müssen die Kinder mit drei schon drei Fremdsprachen kennen und alle möglichen Kurse gehen. Sie kommen überhaupt nicht mehr zum Spielen vor lauter.“

Am Anfang stehen ängstliche Eltern

Perfektionismus beginnt also bei ängstlichen Eltern, die perfekte Kinder haben wollen. Teilweise sei es schon ein richtiger Wahn: „Sie lernen schon von Anfang an, sich auf die Leistung zu reduzieren und Angst zu haben, dass sie nicht gut genug sind. Die Erziehung hat einen ganz großen Anteil an dieser Denke.“ In der Anamnese stelle sich bei den meisten Patienten heraus, dass ihr Perfektionismus daher rühre, dass auch einer oder beide Elternteile auch Perfektionisten seien.

Perfektionisten folgen unrealistischen Maßstäben

In seinem Buch beschreibt Bonelli das Phänomen, das man - leider - vor allem im Schönheitswahn in den sozialen Netzwerken findet. Stichwort: perfekte Fotos. Es bestehe das Problem, dass - vor allem die Frauen - immer schöner sein und jünger aussehen möchten. „Sie sind dann oft sowas von unheimlich perfekt, dass man denkt, befindet sich hinter dieser Maske noch ein Mensch?“ Oft stelle sich heraus, dass sich dahinter „armselige Würstchen“ verstecken, die sich dann aber herrichten und schminken und umständlich Fotos machen, damit die Maske stimme und sie etwas vorweisen können und dazu gehören.

Perfektionismus sei ein Denkfehler, der vor allem weiblich besetzt sei, so Bonelli: „Fast jede Frau hat das Gefühl, dass sie zu dick oder nicht perfekt ist und dass sie dünner sein sollte. Das, was sie zu dick wahrnimmt, ist das, was biologisch weiblich ist. Medizinisch ist das skurril.“ Frauen wollen perfekt aussehen. Eltern wollen perfekte und intelligente Kinder. Bonelli sagt, sie würden dann intelligent, wenn sie viel spielen: „Perfektionistische Eltern wollen ein hoch intelligentes Kind züchten. Sie haben immer verhindert, dass das Kind spielt. Denn sie müssen ja von Anfang an lernen.“

Ehevertrag als Anfang vom Ende

Jugendliche wollen dann den perfekten Lebenslauf, so der Experte: „22-Jährige in Therapie machen im Sommer nicht, wozu sie Lust haben. Sie machen etwas für den CV (curriculum vitae, Lebenslauf, Anm.), das dort gut ausschaut. Seit der Matura denken sie darüber nach, welches Praktikum sie machen sollen. Sie machen es nicht, um etwas zu lernen oder weil es sie interessiert, sondern weil es im Lebenslauf gut aussieht. Ich bin sprachlos, aber es kommt immer häufiger vor.“

Auch Beziehungen müssen heutzutage den perfektionistischen Ansprüchen entsprechen. In die Paartherapie würden oft Paare kommen, die noch nicht verheiratet sind und sich wegen dem Ehevertrag streiten, weil sie vorab regeln wollen, wie sie sich wieder scheiden lassen. „Das ist eine Art von Bindungsunfähigkeit, die Phänomenal ist. Wenn man schon vor der Hochzeit festlegt, wie man sich trennt, ist das aus psychologischer Sicht ein ziemliches Paradoxon.“

Experte: Sicherheitsdenken geht in falsche Richtung

Das Gift lautet: Sicherheitsdenken. Es mache die Perfektionisten krank, so Bonelli: "Deswegen boomt ja auch das Versicherungsgeschäft. „Vor kurzem war ein Versicherungsmakler bei mir, der mir sagte, er möchte auch die Bilder an meiner Wand versichern. Er hat es fast nicht gepackt, als ich gesagt habe, dass ich das nicht mache. Es ist wirklich eine perverse Welt.“ Es gehe dabei vor allem darum herzuzeigen, was man hat, wer man ist und was man macht.

„Ich kenne ein Paar mit sieben Kindern. Die Mutter ist zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Ihr wird knallhart ins Gesicht gesagt: Wieso arbeitest du nicht? Dieses Denkschema ist vollkommen krank, weil wir alles auf eine erwerbstätige Arbeit reduzieren, auf etwas, das man ‚herzeigen‘ kann.“ Dabei vergessen vor allem Perfektionisten auf das wichtigste: das Leben leben, das aber alles andere als planbar und sicher ist. Bonelli: „Das Leben ist lebensgefährlich. Ich weiß im Grunde ja nie, ob ich heute Abend noch lebe. Für den Perfektionisten ist das ein schrecklicher Gedanke, denn er möchte alles geregelt und geplant haben.“