Fordernde Familiensaga am Stadttheater

Das Stadttheater zeigt derzeit eine Neudichtung von Gerhard Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer. Georg Schmiedleitner zeigt das Auseinanderbrechen einer Familie in aller Tragik. Theater, das fordert und niemanden kalt lässt.

2017 in Basel uraufgeführt, lenkt das Stück am Stadttheater Klagenfurt den Blick auf den wachsenden Riss in der Gesellschaft. „Wie sind wir geworden, was wir heute sind?“ Das ist nur eine der unangenehmen Fragen, die in „Vor Sonnenaufgang“ gestellt wird. Niemand in diesem Stück hat brauchbare Antworten. Die Kluft zwischen Wollen und Können ist zu groß, wie auch die Kluft zwischen den Menschen. Vieles bleibt ungesagt, in der Schwebe.

Stadttheater Klagenfurt Vor Sonnenaufgang

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Das Gespräch unter guten, alten Freunden hat sich verändert

„Wie lange, glaubst du, driften wir noch auseinander, bis wir uns nicht mehr hören, wenn wir miteinander sprechen?“, heißt es einmal im Streitgespräch zwischen Alfred, dem Journalisten eines linken Wochenmagazins und Thomas, dem erfolgreichen, neoliberalen Unternehmer. Der Disput ist eine der Schlüsselstellen im Drama um Weltschmerz, Sucht und Liebessehnsucht.

Beginn des Naturalismus

Das 1889 uraufgeführte Sozialdrama Gerhard Hauptmanns provozierte durch seine drastischen Darstellungen einen Skandal und wird als Beginn des Naturalismus in Deutschland bezeichnet. Der damals 26-jährige Autor reihte sich mit seinem Debüt-Drama in eine Literatenriege von Hendrik Ibsen über Emile Zola bis Leo Tolstoi ein. Spielte die sozialkritische Milieustudie Hauptmanns in den schlesischen Kohlerevieren, so siedelt der Oberösterreicher Palmetshofer sein Gesellschafts- und Familienporträt in einer undefinierten Gegenwart mit Internet und Google an. Die Sprache ist nicht dialektgefärbt, sondern vertraut heutig, wenn auch kunstvoll mäandernd. Da drückt sich Sprachlosigkeit in Halbsätzen aus, bleiben Worte wie konturlose Wolken im Raum hängen, lassen Pausen das Gesagte wirken.

Stadttheater Klagenfurt Vor Sonnenaufgang

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Die anstehende Geburt des ersten Enkelkindes verändert das gesamte Familiengefüge

Schwestern wie Tag und Nacht

Der Alkohol fließt in Strömen im Haus der Unternehmerfamilie Krause, die sich auf die Geburt des ersten Enkelkindes vorbereitet. Helene, die jüngere Tochter, ist heimgekehrt, um ihre hochschwangere Schwester Martha zu unterstützen. Dass sie pleite ist und ihre Wohnung aufgeben musste, kommt erst nach und nach heraus, so wie das zerrüttete Verhältnis zwischen dem alkoholsüchtigen Vater Egon und seiner zweiten Frau Annemarie, die verbissen versucht, Familie und Firma zusammenzuhalten: „Man kann’s auch runterschlucken, es muss nicht alles raus!“ Als überraschend ein Studienfreund von Marthas Ehemann Thomas auftaucht, wird stückweise ein Beziehungsgeflecht sichtbar, das von Verunsicherung und Werteverlust geprägt ist.

Stadttheater Klagenfurt Vor Sonnenaufgang

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Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten

Auch die Beziehung zwischen den beiden Schwestern birgt viel Konfliktpotential in sich. Zwei Lebensentwürfe prallen aufeinander, erzählt Raphaela Möst: „Diesen Widerspruch auszuhalten, dass man eine Schwester hat, die zu Hause geblieben ist, geheiratet hat, die Firma mit übernimmt, was man alles nicht möchte, weil man es für spießig empfindet. Gleichzeitig bezahlt man dafür mit dem Alleinsein.“

Abruptes Ende für Liebeszwischenspiel

Der ungebetene Gast ist der „Ungeküsstheit ausstrahlende“ Journalist Alfred, der sich kurz und heftig in die kleine Schwester Helene verliebt, aber schließlich grußlos wieder verschwindet. Holger Bülow verkörpert diesen anfangs kämpferischen, später immer müder werdenden Idealisten mit jugendlichem Feuer, der im Zwiegespräch mit Thomas (aalglatt und emotionslos: Axel Sichrovsky) einsehen muss: „Wir haben uns einmal ein Zimmer geteilt und jetzt bewohnen wir zwei Welten.“

Helene (Raphaela Möst) übersteht das Liebeszwischenspiel mit Alfred nicht unbeschadet, so wie auch ihre überdrehte Schwester Martha (Elzemarieke de Vos), die nach der Totgeburt ihres Kindes in Depression versinkt. Regisseur Georg Schmidleitner hofft, dass das Theater, wenn es pessimistisch ist, besser wird: „Wir sollten ja aus dem schlechten Ende des Stückes auch etwas lernen und Energie schöpfen.“

„Jeder kennt so ähnliche Situationen“

Dramatiker Ewald Palmetshofer setzt auf eine Sprache, die die Absurdität vieler Situationen noch einmal verstärkt. Zum Erlebnis macht diesen Theaterabend eine Regie, die auf die Sprache, die Kraft des Theaters und des großartigen Ensembles vertraut. Regisseur Georg Schmidleitner sagt, im Theater werde die etwas krassere Wirklichkeit gezeigt: „Sonst müsste man auch nicht ins Theater gehen. Ich glaube, dass das Stück so viele Anknüpfungspunkte für die Menschen im Zuschauerraum bietet, dass es auch heftige Diskussionen auslöst. Jeder kennt so ähnliche Situationen.“

Stadttheater Klagenfurt Vor Sonnenaufgang

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Nach der Totgeburt gerät auch das Verhältnis zur Stiefmutter endgültig ins Wanken

Doors-Songs liefern ironische Kommentare

Die Depression als Kehrseite der Wohlstands- und Machbarkeitswelt lauert hinter jeder Ecke. Sie ist für Regisseur Georg Schmiedleitner die Krankheit unserer Zeit. Den ironischen Kommentar zum Geschehen auf der Bühne liefern Songs der Doors, einer der einflussreichsten Musikgruppen der 1960er Jahre. Frontman Jim Morrison, seinerzeit selbst exzessiver Alkoholiker, passt in Georg Schmiedleitners detailgenauer Inszenierung ebenso schlüssig ins Bild wie die Bühnenkonstruktion von Stefan Brandtmayr: Ein Haus aus Jalousien, die eine Art Käfig bilden, kippt immer wieder in die Schräglage, ist schwankendes Schiff oder Schaukel, Gefängnis und Laufsteg zugleich. Im Zentrum, hinter einer Papierwand, eine Kloschüssel, in die sich einzelne Familienmitglieder übergeben, wenn sie zu viel Alkohol aus dem ebenfalls zentralen Kühlschrank konsumiert haben.

Ein langer Theaterabend, der viel Aufmerksamkeit fordert aber auch niemanden kalt lassen wird. Das Premierenpublikum war einhellig begeistert. „Vor Sonnenaufgang“ von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann ist bis 28. April am Stadttheater Klagenfurt zu sehen.

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