Was Thomas Bernhard so wütend machte

Was hat Thomas Bernhard bewogen, in seinen Stücken zu wüten, zu klagen, zu geißeln und bloßzustellen? Der Psychiater Herwig Oberlerchner verfasste dazu eine Psychografie mit erschütternden Details einer Kindheit in Heimen, die Bernhard formte.

Ab Donnerstag ist am Stadttheater Klagenfurt das Stück „Vor dem Ruhestand“ von Bernhard zu sehen. Es ist eine beißend-grimmige Abrechnung über den Umgang mit nationalsozialistischem Gedankengut. Bernhard gehört zu den unbarmherzigsten Schriftstellern deutscher Sprache. Er selbst meinte, er schreibe mit einer „Mordtinte“. Doch was trieb ihn dazu? Dieser Frage versucht Oberlerchner, Primarius an der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt, nachzugehen. Er analysierte Bernhards Lebenslauf und veröffentlichte eine Psychografie.

Der Autor

Herwig Oberlerchner, geboren 1964 in Villach, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee; Psychotherapeut (Psychoanalyse), Lehranalytiker beim Salzburger Arbeitskreis für Psychoanalyse; Lehrbeauftragter der Universitäten Graz, Wien und Klagenfurt; Veröffentlichungen zu den Themen Psychiatrie im Nationalsozialismus, Schizophrenie und Trauma.

Als Kleinkind Zeichen einer Depression

Oberlerchner sagte, er habe wissen wollen, wie der Mensch zu diesem Stil gefunden habe, mit einer Biografie, die jeden Menschen zerstören könnte. „Wenn jemand so tiefe seelische Irritationen erleben muss, wie geht er damit um?“ Bernhard sei ein ungeliebtes, ungewolltes Kind gewesen und habe oft sein Lebensumfeld gewechselt.

„Ein erschütterndes Detail ist sicher das, dass er in den ersten Lebensmonaten in einem Kinderheim in Holland für mich deutlich interpretierbare Zeichen einer schweren Störung, eine erste Depression zeigte. Die Mutter beschrieb das in einem Brief an den Vater so, dass das Kind in einem Bettchen gelegen sei, sie nicht mehr wiedererkannt hätte und einen starren, ausdruckslosen Gesichtsausdruck gehabt habe.“ Das sei ein erstes Warnsignal für Hospitalismus, dass mit den Kindern keine emotionale Beziehung mehr herstellbar sei.

Thomas Bernhard 1988

APA/IMAGNO/Harry Weber

Thomas Bernhard 1988 bei den Proben zu „Heldenplatz“ im Burgtheater

Kinder erlebten in Heimen keine körperliche Nähe

Man müsse sich laut Oberlerchner diese Heime in den 50er-Jahren so vorstellen, dass die Kinder zwar versorgt worden seien, aber keinerlei Körperkontakt erlebten. Bernhards Mutter habe ihn pro Tag nur 20 Minuten aus dem Bettchen nehmen können. Sie hielt das irgendwann nicht mehr aus und suchte für ihn eine andere Unterbringung, ein biografischer Aspekt, den Bernhard in seinen Schriften erwähnte. Er sagte, er sei auf dem Meer auf einem Fischkutter aufgewachsen. In einer Hängematte auf der Decke sei er vor sich hin vegetiert. Schließlich brachte die Mutter das Kind nach Wien zu den Großeltern.

Der Großvater Johannes Freunbichler war ein fester Anker. Oberlerchner sagte, er sei aber ein schwieriger Mensch, ein Literat gewesen. Er habe den Staatspreis für Literatur bekommen, konnte aber die Familie nicht ernähren. So mussten Ehefrau und Tochter den frustrierten Literaten durchfüttern. Einen großen Teil der weiteren Kindheit verbrachte Bernhard in nach Nazi-Stil geführten Kinderheimen.

Schwarze Pädagogik erniedrigte Kinder

Oberlerchner schreibt von schwarzer Pädagogik, die dadurch gekennzeichnet werde, dass das Kind permanent bloßgestellt werde. Auch körperliche Gewalt gebe es, aber vor allem die seelische Gewalt stehe im Vordergrund. Das sei Bernhard auch später in dem katholisch geführten Heim passiert. Er schrieb später scharf kritisierend, er habe gar keinen Überqang gemerkt. Das Hakenkreuz sei durch ein Kruzifix ersetzt worden. Die Grundprinzipien der pädagogischen Haltung seien ident gewesen.

Thomas Bernhard

Thomas Bernhard (1931-1989) war einer der bekanntesten und literarisch einflussreichsten österreichischen Schriftsteller, dessen Werk von Wut, beißender Kritik, Rundumschlägen auf den Staat Österreich und diverse Städte, auf Mediziner aller Art, auf Mütter und Väter, Haushälterinnen, Schulen gekennzeichnet war. Er wurde als uneheliches Kind in Heerlen (Niederlande) geboren, wo seine Mutter Herta Bernhard als Haushaltshilfe arbeitete. Sein Vater war der (wie auch der Großvater) aus Henndorf am Wallersee stammende Bauernsohn und Tischler Alois Zuckerstätter.

Oberlerchner sagte, durch die Erlebnisse in der Kindheit sei Bernhard zutiefst in seinem Selbstwertgefühl irritiert gewesen. Ab 1963 habe er mit dem ersten Roman „Frost“ den Durchbruch geschafft, Preise gewonnen und Geld verdient. Das habe ihn sicherlich auch befriedigt. Er habe gemerkt, dass er mit seinem Stil in der Öffentlichkeit stand. Mit dieser Form von aggressiven Rundumschlägen habe er gut Werbung für sich machen können.

Kampf gegen Reste das Nazitums

Ein Anliegen dürfte es ihm gewesen sein, die Reste nationalsozialistischen Denkens in der Gesellschaft aufzudecken. Sei es aus der Perspektive des Opfers wie in „Heldenplatz“, sei es aus der Perspektive des Täters wie in „Vor dem Ruhestand“. Der Roman „Holzfällen“ ist eine beißende Kritik an seinen Mäzenen, den Lampersbergs. Oberlerchner sagte dazu, von Idealisierung sei es zu Rachegelüsten gekommen.

„Schreiben war sein Ventil“

Man müsse an die Beziehung zu den primären Bezugspersonen denken, um das zu verstehen. „Frustriert von der Mutter, die aber auch aus wirtschaftlichen Gründen keine andere Chance hatte, den Sohn so zu versorgen. Frustriert vom narzisstischen Großvater, der die Bedürfnisse des Kindes nicht wahrnahm, zieht sich das Nicht-gesehen-Werden durch die Biografie. Das ruft Wut und Verzweiflung hervor.“ Verdrängung halte nicht lange an, wie bei einem Druckkochtopf suche das Unbewusste Ventile für den Leidensdruck. Bernhard habe das Ventil der schriftstellerischen Kreativität gefunden. „Wer weiß, was sonst aus ihm geworden wäre.“